Keith Jarrett – Expectations

Es gibt einen Keith Jarrett weit jenseits der meisten ECM-Einspielungen des Pianisten. Einen Jarrett, Welten entfernt insbesondere von der „altersweisen“ Standards-Trio-Sammlung der 90er Jahre. Da sind zum einen die hochgradig spannenden Aufnahmen des Jarrett-Quartetts mit Dewey Redman, Charlie Haden und Paul Motian aus den Jahren 1973/74 – in Deutschland schon damals schnell in den Grabbelkisten mit preisgünstigen Cut-outs verschwunden und erst 1998 schließlich bei Impulse/MCA als CD-Paket veröffentlicht.

Schon 1971 gab diese Besetzung ein Gastspiel bei Columbia Records, das jedoch nur ein einziges Doppelalbum lang währen sollte. „Expectations“ war offenbar doch too much für das Label von Miles Davis und John Mc-Laughlin: ein visionäres Abenteuer zwischen hymnischer Streicher-Romantik, verzerrter Rock-Gitarre (vom hier zu Lande ja komplett übersehenen Sam Brown), pulsierenden Rhythmen, von Airto Moreira zusätzlich angeheizt – und mit Keith Jarrett, der in jederzeit nachvollziehbare Trance geriet, egal, ob es um Klaviertasten oder die Klappen seines Sopransaxofons ging.

Emotionsgeladene Fusion war das, ohne jegliche Vorbilder (und aus gutem Grund auch ohne Nachahmer), dem Free-Jazz nicht weniger nahestehend als dem Gospel. Ein Meilenstein, damals schon unter ferner liefen den meisten Fans entgangen, nun endlich – nach einer durcheinandergewürfelten CD-Version in den frühen 90er Jahren – in korrekter Komplettwiedergabe jener fast 80 Minuten, die Jarrett zu Recht als „mein großes Projekt“ empfand. Bob Beiden hat dafür gesorgt, dass der Seventies-Sound erhalten blieb mit krassem Stereo-Effekt und ohne sonderlich feinsinniges Klangbild. Feinsinn hat Jarrett später schließlich noch oft genug unter Beweis gestellt. Hier aber ging es vor allem um heftige Emotionen, um Musik, zu der noch besser der Titel „Visions“ gepasst hätte. Aber so heißen ja heute schon Rock Postillen.

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