1968: Die Beatles veröffentlichen ‚The Beatles‘ – das „Weiße Album“

„The Beatles“ war der Kater nach dem Rausch der Psychedelia, ein Vorbote der Innerlichkeit der 70er-Jahre, die Tom Wolfe „The Me-Decade“ nannte, das wohl erste postmoderne Album der populären Musik und ein zerbrochener Spiegel, in dem man seine Schöpfer erkannte.

Als vor 45 Jahren, am 22. November 1968, ein weißes Doppelalbum mit dem schlichten Titel „The Beatles“ erschien, muss der Schock groß gewesen sein. Die Band, die mit dem kunterbunten „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ anderthalb Jahre zuvor noch die Richtung vorgegeben und Strategien der Avantgarde in den Mainstream geführt hatte, schien aus der Zeit gefallen zu sein. Man erwartete von den einstigen Propheten einer neuen Zeitrechnung ein konkretes Statement zu Vietnam, den Studentenunruhen und dem sich nach den Attentaten an Martin Luther King und Robert Kennedy verschärfenden politischen und sozialen Klima. „All You Need Is Love“ reichte nicht mehr, es musste härter sein und radikaler. Doch die Beatles gaben der wartenden Menge nur ein müdes und unentschlossenes „Revolution 1“. Der Rest des Albums bestand aus Kinder- und Geburtstagsliedern, Albernheiten, Spielereien, introspektiven Folksongs, Balladen über Mütter und Mädchen und seltsam (selbst-)referenzielle Country-, Vaudeville-, Blues- und Rock’n’Roll-Pastiches. John, Paul, George und Ringo verweigerten eine Botschaft und schauten scheinbar selbstgefällig nach innen. Und was noch schlimmer war: Sie klangen nicht mehr wie die Beatles.

Das Weiße Album (wie es bald im Volksmund hieß) war das Ergebnis einer Entwicklung, die bereits zwei Jahre zuvor ihren Lauf genommen hatte. Die Beatles waren auf den Bühnen der Clubs in Hamburg und Liverpool zu einer Einheit zusammengewachsen. Als sie aber Ende August 1966 aus dem Auge des Hurricanes traten und beschlossen, nicht mehr live zu spielen, löste sich ihre zuvor scheinbar unzertrennbare Verbindung. George Harrison widmete sich der Meditation und dem Sitar-Spiel, Paul McCartney tummelte sich in Londoner Underground- und Avantgardekreisen, John Lennon drehte „How I Won The War“ und lebte als frustrierter Familienvater in der Vorstadt, Ringo Starr besuchte ihn ab und zu.

Mit dem Video zu „Strawberry Fields Forever“ kehrten die Vier im Februar 1967 kaum wiedererkennbar in die Öffentlichkeit zurück – die Pilzkopffrisuren waren rausgewachsen, Schnauzbärte ließen die Jungsgesichter alt aussehen. Auf ihrem nächsten Album verkleideten sie sich als „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“, im August 1967 starb Brian Epstein, und die Fab Four waren vogelfrei. Das Filmprojekt „Magical Mystery Tour“ lief aus dem Ruder, und es hagelte Kritik auf die einst unfehlbare Band. Doch statt die Scharte auszuwetzen, wie Epstein es von ihnen wohl verlangt hätte, verabschiedeten die Beatles sich nach Rishikesh zum Maharishi, um sich selbst zu finden. Und hier, weit weg vom Swinging London, dem Zentrum der Popwelt, entstanden viele der Songs ihres nächsten Albums. Jeder schrieb für sich allein. Hatten ihre Lieder zuvor jeweils vom Feedback und den Einfällen der anderen profitiert und waren so erst zu Beatles-Songs geworden, entstanden in Indien John-Songs, Paul-Songs und George-Songs. Das Individuum trat an die Stelle des Kollektivs.

Bei den Aufnahmen, die sich von Mai bis Oktober 1968 hinzogen, versuchten sie gar nicht erst, die auseinanderstrebenden Kräfte zu bündeln. Im Gegenteil, die Beatles drifteten noch weiter auseinander. Teilweise arbeiteten sie in unterschiedlichen Studios jeweils an ihren eigenen Songs. George Harrison holte sogar seinen Freund Eric Clapton für das Gitarrensolo von „While My Guitar Gently Weeps“ ins Studio, weil der Rest der Band nicht genügend Enthusiasmus zeigte. Lennon war voll auf seine neue Liebe Yoko Ono fixiert, die nicht mehr von seiner Seite wich. Das führte während der Sessions zu enormen Spannungen. Das war das endgültig Ende der Jungs-Gang. Starr verließ kurzzeitig die Band, Produzent George Martin fuhr während der Aufnahmen in Urlaub, Toningenieur Geoff Emerick schmiss entnervt hin, und McCartney ließ als Beistand seine Freundin Linda Eastman aus New York einfliegen. Alles schien sich aufzulösen, und die Musik kündet davon. Das Album ist ein riesiger Scherbenhaufen. 30 Songs, die sich nur durch den scheinbar selbstironischen Titel „The Beatles“ zu einem Ganzen zusammenfügen. Lennons Beiträge zeigten die Desillusionierung eines Mannes, der LSD gegen Heroin ausgetaucht hatte, Harrison tauchte aus der spirituellen Versenkung nur auf, um seine Verachtung über die materielle Welt auszuschütten, McCartney schwankte zwischen Genie, Wahn- und Schwachsinn und Starr gab sich als Vorläufer Noel Gallagher’scher Dichtkunst zu erkennen („I’m sorry that I doubted you/ I was so unfair/ You were in a car crash/ And you lost your hair“), bevor er die Zuhörerschaft mit einem Lennon-Song in den Schlaf sang.

Ähnlich wie Dylans in der Einsiedelei entstandenes mystisches Folkalbum „John Wesley Harding“ ein Jahr zuvor, gab das Weiße Album sein Geheimnis nicht sofort preis. Doch die anfängliche Kritik verpuffte bald. Man musste nicht so irr sein wie Charles Manson, dem die Beatles in „Helter Skelter“ und „Piggies“ als die vier Engel der Apokalypse erschienen, um in diesen Scherben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Pop lesen zu können. „The Beatles“ war der Kater nach dem Rausch der Psychedelia, ein Vorbote der Innerlichkeit der 70er-Jahre, die Tom Wolfe „The Me-Decade“ nannte, das wohl erste postmoderne Album der populären Musik und ein zerbrochener Spiegel, in dem man seine Schöpfer erkannte. „The Beatles“ ist sicher nicht das beste Album der Beatles, wie heute gerne behauptet wird, aber es vereint einige der besten Songs von John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr.

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