Gegen den 80er-Jahre-Wahn setzt JONATHAN COE einen Gesellschaftsroman über die goldenen Siebziger

Seit ein paar Jahren schon feiert alle Welt das Revival der 80er Jahremitderweile freilich so nostalgisch verbrämt, verkitscht und verklärt, dass es einem beinahe Leid tun kann, selbst auch schon mal zu diesem Thema Unmaßgebliches geschrieben zu haben -, da erscheint von Jonathan Coe, einem „Star der Londoner Literaturszene“ (Klappentext), den hier zu Lande immer noch keiner kennt, hübsch verquer und gegen den reißenden Medienstrom ein großer Gesellschafts- und Zeitroman über die goldenen Siebziger: „Erste Riten“. Von Sky Nonhoff, der als einfallsreicher Erzähler ja ebenfalls noch zu entdecken ist und dessen Geschichtensammlung „Boy Meets Girl“ hiermit empfohlen sei, so flüssig übersetzt, wie es dieser spannende Roman verlangt. Coe schreibt in der Tradition des 19. Jahrhunderts, also positivistisch, multiperspektivisch, in die Breite. Was er sich vorgenommen hat, ist nichts weniger als ein Gesellschaftspanorama, das die popkulturelle Evolution ebenso wie die sozialen, politischen und nicht zuletzt auch ideologischen Wandlungsprozesse der Zeit, vor allem in England, nachzuzeichnen versucht: Wie Eric Clapton als Pop-Superheld und Integrationsfigur ergänzt bzw. langsam abgelöst wird von Fred Frith und seiner Avantgarde-Combo Henry Cow und schließlich von Joe Strammer und den anderen; wie die sozialistischen Utopien erodieren; wie sich der anfängliche, von Labour-Partei und den Gewerkschaften geschürte Optimismus der Arbeiter mehr und mehr verwandelt in tiefe Skepsis und Defätismus, der Sozialstaat geschleift wird und einem Neo-Manchestertum weichen muss; wie der gegen die farbigen Einwanderer aus dem ehemaligen Commonwealth gerichtete latente Rassismus immer vernehmlicher und von radikalen politischen Gruppierungen wie der National Front schließlich populistisch ausgebeutet wind; und, natürlich, wie der Nordirland-Konflikt immer mehr eskaliert und die IRA sich sukzessive zu den Staatsfeinden Nummer eins hochbombt. Coe gelingt das Kunststück, all das mit einem ziemlich übersichtlichen Figurenarsenal durchaus plastisch zu vergegenwärtigen, allerdings sind die meisten seiner Personen damit zwangsläufig Typen, die stets für eine bestimmte soziale Klasse, für einen Habitus, für eine gewisse Gesinnung stehen müssen, und manchmal bleiben sie dann eben auch nur schlichte Karikaturen. Aber immerhin! Eine Handvoll Hauptpersonen bekommt durchauscharakterliche Tiefenschärfe: jener Kreis um Benjamin Trotter, den adoleszenten Eliteschüler, angehenden Literaten und Komponisten, der mit seinen Freunden die Schülerzeitung betreut, die obligatorische Band gründet und der Schulschönheit Cicely Boyd hinterhergeifert. Denn eins ist „Erste Riten“ auch noch, vor allem anderen – und der deutsche Titel stellt das ja vielleicht ein bisschen zu offensichtlich aus: ein Initiations-Roman. Coe folgt Trotter und seinen Freunden auf dem Weg des Erwachsenwerdens, lässt sie erste Triumphe feiern und schmachvolle Niederlagen einstecken, lässt sie schmachten oder auch schon mal ganz handfest zur Sache kommen – wie Doug, der nach London fährt, weil der „New Musical Express“ Interesse geheuchelt hat an einem seiner Artikel, der dort einen fulminanten Auftritt von The Clash zu sehen bekommt, dann zum guten Abschluss eines idealen Teenagertages bei der dekadenten reichen Journalistin Ffion in der Kiste landet und zu allem Überfluss gleich beim ersten Mal den gottverdammt besten Sex erleben darf, den sich ein Schriftsteller so ausdenken kann. Man bekommt hier tatsächlich ein bisschen den Eindruck, als habe Jonathan Coe sich – und uns natürlich! mit dieser wunderbaren London-Episode nachträglich und literarisch vermittelt ein paar Träume erfüllen wollen. Nicht der schlechteste Grund, einen Roman zu schreiben. Frank Schäfer

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