Sprache der Angst

Wie in jedem Jahr, so warteten wir auch in diesem trostlosen Oktober, knapp vor der Frankfurter Buchmesse, auf die Bekanntgabe des Nobelpreisträgers für Literatur. Der Jury-Vorsitzende hatte uns mit dem Hinweis, die Amerikaner nähmen sich zu wichtig, es gebe auch andere Regionen auf der Erde, beinahe jede Hoffnung darauf gestohlen, dass schließlich doch der große Philip Roth ausgezeichnet würde. John Updike starb in diesem Jahr ohne den Preis, den er wahrscheinlich ohnehin nicht erwartet hatte. Bei Thomas Pynchon wüsste das Kommitee vermutlich gar nicht, wo es anrufen könnte außer beim Verlag. Philip Roth aber, jetzt 76 Jahre alt, sind eine souveräne Eitelkeit, das Wissen um sein Genie und die Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht fremd.

Er bekam den Preis natürlich wieder nicht. Und doch gab es keinen Anlass zu dem routinemäßigen Wehgeschrei, das sich sonst erhebt, wenn Derek Walcott, Elfriede Jelinek, Dario Fo oder Harold Pinter geehrt werden. Nicht nur kann Herta Müller von den Medien als Deutsche und Sensationsgewinnerin reklamiert werden – sie ist auch eine würdige Preisträgerin. Mit frischer Tulpenfrisur und grellem Lippenstift trat sie vor die Fotografen, angemessen überwältigt und zurückhaltend, schon an den nächsten Kartoffelkauf auf dem Markt denkend und bald wohl auch an das Preisgeld von einer Million Euro, das ihr künftig ein sorgenfreies Leben ermöglichen könnte.

Wäre Herta Müller denn so etwas wie Sorglosigkeit überhaupt möglich. Noch immer fühlt sie sich verfolgt vom rumänischen Geheimdienst und von der Vergangenheit im Banat, aus dem sie 1987 ausreiste, freigekauft von der deutschen Regierung. Die Gemeinde der Rückkehrer aus dem Banat pflegt in Schwaben ihre Bräuche und will von den Ceausescu-Jahren in Rumänien nichts hören. Und jene Rumänien-Deutsche, die noch immer im Banat leben, halten die Müller für eine Renegatin. Die Spitzel von einst haben Karriere gemacht. Herta Müllers greise Mutter hatte auch etwas mitzuteilen: „Ich habe ja immer gesagt, sie soll Lehrerin bleiben.“ Vielleicht komme die nun berühmte Tochter bald häufiger zu Besuch. Ausgereist war sie in dem Bewusstsein, niemals zurückkehren zu können.

Und so schrieb sie an den „Landschaften der Heimatlosigkeit“, wie die Jury es formuliert, in einem schroffen, stolzen, metaphernreichen und doch reinen Deutsch, das an Paul Celan erinnert, der den Horror vacui nur in Bildern, in einem hohen, pathetischen Ton fassen konnte. Die Dichtung Herta Müllers ist von einer archaischen Schärfe und Prägnanz, man kann sie nicht weglesen wie einen Schmöker von Dan Brown oder Frank Schätzing. Es ist also elitäre Kunst – aber anders als die Trivialliteratur handelt sie von wirklichen Schrecken, von Angst und Wahn und von Gespenstern, die man niemals vertreiben kann. Doch ist diese Prosa nicht hysterisch oder effektheischend; auch schreibt Herta Müller nicht aus Lust: „Die Angst vor dem Satz, der Unwille zum Schreiben – es ist fast ein Widerwille – ist der einzige Grund, weshalb ich es tue“, sagte sie vor langer Zeit in einer Poetik-Vorlesung. Dergleichen würde man von Nadine Gordimer, von Doris Lessing nicht hören. Herta Müllers Vater war ein Nazi, später ein Säufer, ihre Mutter wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für fünf Jahre nach Russland deportiert. Herta Müller kam zur Welt in einer beschädigten Familie in einer deutschen Enklave, die seit 200 Jahren in den Grundzügen unverändert geblieben war. Securitate-Spitzel und Opportunisten vergifteten das bäurische Idyll, die deutsche Gemeinde kooperierte. Herta Müller aber, die früh mit dem Schreiben begonnen hatte, lehnte jede Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst ab, durfte nicht mehr als Lehrerin arbeiten, wurde in einer Fabrik als Übersetzerin geduldet. „Niederungen“, ihr Debüt, erschien in Rumänien verstümmelt, 1984 indes komplett in Deutschland. Mit ihrem damaligen Mann Richard Wagner emigrierte sie nach Berlin. Zu den Banater Schwaben, auch denen in Deutschland, die Müllers Arbeit als Nestbeschmutzung verunglimpfen, schreibt Wagner: „Über sie ist nichts zu sagen.“

Der Ton, man kann auch sagen: der Stil Herta Müllers ist einzigartig in seiner lakonischen Schwermut. Es stimmt, was Sigrid Löffler im ORF konstatierte: Die Nobelpreis-Jury bevorzugt Emigranten, Sprachwechsler, kulturelle Grenzgänger, politisch Verfolgte. Philip Roth lebt gemütlich in Massachusetts und manchmal in New York, er schreibt in Englisch, seiner Muttersprache, und verfolgt wurde er seit „Portnoys Beschwerden“ nur von bigotten und bornierten Spießern, die freilich längst aufgegeben haben. Jedes Jahr schreibt Roth ein neues Buch, jetzt meistens ein dünnes, schlichtes, altmeisterliches, und die Ferkeleien sind heute eher harmlos, verglichen mit früheren bacchantischen Orgien. Er wird nicht gar so traurig sein.

Philip Roth wird weiterschreiben an seinem Stehpult im Gartenhaus, um den Nobelpreis und die Jury zu überleben.

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