Tonträger :: im November

Na waren’s nur noch dreL Und der Abgang von Bill Berry bot den Anlaß für eine künstlerische Remedur, bei der besonders der Einsatz der Rhythmusmaschine ausfuhrlich bedacht wurde. Kein Rock mehr jedenfalls und keine Jingle-Jangle-Gitarren, das wußte man schon. Jahrelang hatten sie geschworen, auf kein Mitglied je verzichten zu können. Bill Berry war gerade durch die Tür gegangen, da machte sich das verbliebene Trio an die Arbeit. Und Michael Stipe raunte: „Ich glaube, ,Up‘ ist ein Kopfhörer-Album.“ Ich glaube, „Up“ ist ein Technokraten-Album. New adventures in lo-fi. War die letzte Platte weder abenteuerlich noch auffallig Hi-Fi, so ist „Up“ eine Technikschau, eine Ausstellung von Virtuosität, exquisitem Equipment und wohlüberlegten Einfallen. Allein, die Einfalle galten dem Sound; die Songs sind elegisch, wie man es kennt von den späten R.E.M., introspektiv, manchmal überladen, manchmal langweilig. Stipes Gesang ist verblüffend deutlich, die Texte sind kenntlich, wenn auch kryptisch: „maybe“ und „baby“ reimt Stipe noch immer gern, aber auch Jkilling alligators“ hört man heraus oder ein selbstquälerisches „save me from myself again“. Stipe erklärt in der bekannten Putzigkeit die Themen des Albums: „Ich war diesmal von der Idee fasziniert, jenen Ort zu erkunden, wo diese zwei Bullen stehen: Religion/ Spiritualität und Wissenschaft/ Technologie, die dann in der Mitte zusammenTONTRÄGER

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prallen.“ Sind das nicht sogar vier Bullen, die in Stipes Neuer Mitte aufeinanderprallen?

Die Erkundung ist natürlich Quatsch, obwohl“ Up“ sehr nach Konzept klingt Das liegt allerdings an dem unablässigen Einsatz von Farfisa-Orgeln, Moog-Synthesizers, Klaviergeklimper, Knöpfedrücken, Reglergeschiebe und Geräuschemacherei. Nur selten tönt Peter Bucks Fuzz-Gitarre, und Mike Mills saß angeblich oft am Klavier. Stipe spielt in der sogenannten Coda von „Diminished“ sogar Gitarre – das karge Geschrumm gemahnt an Graham Coxons depressive Einschübe bei Blur. „I’m not over you“, winselt Stipe dabei wiederholt, dann ist Schluß. Wie überhaupt manches sehr weinerlich klingt in den herbstlichen Tagen der ehedem bedeutendsten amerikanischen Band. Heute sind R.E.M. womöglich die prätentiöseste.

Verkünstelung ist das Wort Selbstzitat ein anderes. Oft, etwa bei „Parakeet“ mit Bombast und Pump-Orgel, schimmert „Drive“ durch, das wunderbar enigmatische Stück von ^lutotnaticFor ThePeople“. Oder bei „Diminished“, wenn die Stipesche Wendung wieder lautet: „Maybe Fm crazy-.“ JHope“ ist bis in die Lyrik hinein bei Leonard Cohens „Suzanne“ entlehnt: „And you’re looking for salvation…“

Geht Stipe nicht ohnehin den einsamen Weg des großen Grüblers und weiland Lebemannes, der heute im Kloster hockt und für die genügsamen Mönche kocht? Cohen ist abstinent, und Stipe hat zwar kein Aids, wie üble Gerüchte verbreiteten, aber wohl auch keinen Sex mehr. Er transzendiert in die Vergeistigung, ins Virtuelle, ins Esoterische.

Da kann der bodenständige Musikforscher Bück nicht folgen, und der lustige Mills schon gar nicht. Während Stipe „E-Bow The Letter“ fortsetzt, bleibt den Kollegen nur die Tüftelei. Es wabert und fiept deshalb erlesen, alle Register werden gezogen, jeder Klang mal probiert Melodien sind in dieser Phase nicht mehr von Bedeutung, Präzision auch nicht Ist das dieselbe Band, der wir „Murmur“ und „Life’s Rieh Pageant“ verdanken? Nichts gegen Wandel! Aber die Herbst-Platte, -üe“Up“ auch ist, haben R.E.M. mit „Automatic For The Beople“ schon gemacht, und alles auf Automatic“ ist besser als alles auf,, Up“. Hey, kid, rodt’n’roll! Niemand hat Stipe gesagt, wohin er gehen soll. Aber es geht weiter.

Was ist schließlich zu halten von Stipes überraschender Absicht, in das Leben der arbeitenden Bevölkerung zu blicken? Das ist der fünfte Bulle von „Up“, und das Wort erfüllt sich in den Songs „Airportman“ und „Daysleeper“, der zweite eine Reprise von „Nightswimming“: Stipe als Chronist der Arbeiterklasse! Dies ist das Allerletzte, was wir von Michael Stipe erhoffen: Songs über Gabelstaplerfahrer, Verkehrspolizisten und Diätköchinnen. Andererseits könnte der Blick eines Außerirdischen auf den Arbeitsalltag nicht fremder sein.

Auch an „Up“ wird man sich gewöhnen. 3,0

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