An der Schwelle zur Stille

Okay, seine Eckdaten gibt es im Schnelldurchlauf: Mark Hollis ist Engländer, lebt mit seinen zwei Kindern im Westen Londons, und ältere Leser werden sich womöglich noch daran erinnern, wie er mit seiner Pop-Band Talk Talk Anfang der Achtziger ziemlich verrückte Playback-Auftritte fürs Fernsehen absolvierte. Er schmunzelte immer ein bißchen narkotisiert – und vergaß schon mal das Singen.

„Yeah, that was fun“, schmunzelt Hollis noch einmal, obwohl er heute eigentlich nicht mehr so viel schmunzelt; dafür ist er immer hellwach. Und seine riesigen roten Ohren leuchten lustig, wenn er Sätze wie die folgenden sagt: „Wenn ich ein Album produziere, stelle ich mir immer vor, es sei mein allerletztes. Ich liebe es, Musik zu machen, aber es muß nicht gleich eine Aufnahme entstehen. So ein Album braucht unendlich viel Zeit“ Wenige haben überhaupt damit gerechnet, daß noch einmal etwas von Mark Hollis erscheint Schon zwischen den letzten Werken von Talk Talk lagen gigantische Intervalle – analog zu den noch gigantischeren Intervallen zwischen den Tönen auf diesen Viferken. 1988 erschien „The Spirit OfEden“, 1991 „The Laughing Stock“; in dem Spannungsfeld von Jazz und Pop riß Hollis hier Akkorde und Rhythmen auf, bis nur noch ein ganz selbstgenügsames Schwingen im Klang übrigblieb. Der Künstler, der bis zur Veröffentlichung seines Solo-Debüts im Februar sieben Jahre lang geschwiegen hat, musizierte schon immer an der Grenze zur Stille. „Etwas wie absolute Stille gibt es nicht“, erläutert Hollis. „Weshalb ich das Geräusch, das in jedem Raum herrscht, als kompositorisches Element mit einbeziehe. You have to feel the room!“

Aber für einen wie Mark Hollis ist Feeling auch eine Frage der Organisation. Und so verwundert es nicht, daß seine uneingeschränkte Bewunderung dem Freejazz-Propheten Ornette Coleman gilt: „Er ist ein Meister der Improvisation, die sich bei ihm aber erst aufgrund eines Plans entfalten kann. Bevor ich ins Studio gehe, organisiere ich alles nach sehr strengen Maßstäben, um mich dann um so mehr einer bestimmten Stimmung hingeben zu können.“

Hollis, der nie behauptet hat, bescheiden zu sein, will gleichermaßen Jazz und Klassik und Folk repräsentieren. Also alles oder gar nichts. Es spricht auch für sein selbstbetiteltes Debüt-Album, daß man ihm nicht anhört, mit welcher strategischen Schärfe er diesem Anspruch nachkommt. Das Verhältnis der Instrumente zueinander hat er genau austariert: „Das Piano ist in allen drei Bereichen zuhause, es läßt sich also universell einsetzen. Die Klarinette ist ein Bindeglied zwischen Jazz und Klassik, während die Flöte sowohl in der Klassik als auch im Folk zu Hause ist“ Undsoweiterundsofort Aber man hört die opulente instrumentale Ausstattung nicht heraus, weil im Studio stets nur kleine sinnstiftende Ensembles aus dem Orchester herausgelöst worden sind.

Wie gesagt, hier werden Töne an der Grenze zur Stille gesetzt Und an der Grenze zur Zeitlosigkeit. „Ich will, daß meine Songs sich nicht auf ein bestimmtes Jahr datieren lassen.“ Doch Zeitlosigkeit ist so wenig zu haben wie Stille, weshalb Mark Hollis scheitern muß. Ein grandioses Scheitern ist das – und also das Gegenteil vom piefigen Sieg des Mittelmaßes.

Wer kommt schon auf die Idee, einen Song mit dem Titel „A Life (1895 -1915)“ zu komponieren? Mark Hollis natürlich, der zwar hier und jetzt lebt, aber einfach nicht einsehen will, welchen Einfluß diese Tatsache auf seine Kunst haben solL „Man muß sich das mal vorstellen: Der Mensch, von dem ich da singe, wurde um die Jahrhundertwende geboren – und starb bereits zwei Jahrzehnte später. Aber was für Umbrüche es in dieser Zeit gegeben hat! Aufbruch, Nationalismus, Krieg. Also Hoffnung, Wirklichkeit, Tod.“ Natürlich geht es ihm hier nicht um historische Wahrheit, sondern um psychosoziale Wirklichkeit, weshalb er einen Haufen Bücher – darunter das von ihm geliebte „Im Westen nichts Neues“ – verschlang, „um Lyrics zu verfassen, für die weniger als 20 Worte reichen“.

So knapp und still und zeitlos wie möglich muß die Musik von Mark Hollis sein. Wird sie jemals live aufgeführt werden? „Um Gottes Willen, stell Dir doch mal vor, wenn da jemand hustet!“

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