Berlinale: „Europe, She Loves“. Europa – Die Nadel, an der wir hängen

Der Schweizer Regisseur Jan Gassmann zeigt in seinem halbdokumentarischen Film »Europe, She Loves« die depressive Seite der Europäischen Union.

Die Flüchtlingssituation und der unterschiedliche Umgang mit dieser in den EU-Mitgliedstaaten hat die Aktualität der Frage »Was ist Europa?« einmal mehr deutlich gemacht. Jan Gassmann widmet sich in seinem halbdokumentarischen Film ganz dieser Frage, indem er an vier prekären Außenstellen der Europäischen Union Paare in ihrem Alltag beobachtet.

Europa sei die »wohlhabendste Region der Welt«, ein »Friedensversprechen« und »das, was wir sein wollen« erfährt der Zuschauer zu Beginn des Films. Es ist ein Einspieler aus dem Europäischen Parlament, der den selbstherrlichen Anspruch der Union noch einmal in Erinnerung ruft, bevor es in die Realität geht. Diese Realität, eingefangen in Tallin, Sevilla, Thessaloniki und Dublin, ist von Tristesse geprägt, nebelverhangen und blass. Sie handelt von den enttäuschten Hoffnungen und fehlenden Perspektiven der Generation, die theoretisch alle Möglichkeiten hat, praktisch aber nur vor verschlossenen Türen steht.

Im Zentrum stehen dabei jeweils die Frauen der Paare, nicht umsonst heißt der Film »Europe, She Loves«. Da ist zum Einen Veronika, die mit ihrer Patchworkfamilie in einem kleinen Holzhaus am Rande von Tallin lebt. Sie hofft, dass sich ihr neuer Freund Harri besser mit ihrem Sohn aus erster Beziehung versteht. Um es der Familie so leicht wie möglich zu machen, verbringt sie ihre Nächte in einem der zahlreichen Technoschuppen im Zentrum der estnischen Hauptstadt, um dort die geifernden Geschäftsleute aus Moskau und Brüssel zu animieren.

Siobhan in Dublin hat andere Sorgen, ihr Freund Terry ist ein ehemaliger Junkie und in ihrer romantischen Verliebtheit lässt sie sich immer wieder zum gemeinsamen Crack-Konsum hinreißen. Sie könnte etwas aus ihrer Zukunft machen, doch Terry wirkt auf sie wie eine Art Virus, der sie mit seiner Selbstverlorenheit und Depression ansteckt und in die Ko-Abhängigkeit zieht. Caro in Sevilla und Penny in Thessaloniki sind in einer vergleichbaren Situation, ihre beiden Lover Juan und Niko sind die Gewichte, die an ihren Füßen hängen und sie daran hindern, der Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat zu entfliehen und woanders neu anzufangen.

In Episoden halten Jan Gassmann und sein Kameramann Ramon Gier die Lebensumstände fest, in denen sich ihre Protagonisten befinden. Sex und Drogen spielen bei allen eine große Rolle, je nach Situation sind sie Tranquilizer oder Aufputschmittel, Trost oder Segen. Ihre Funktion ist die des verlockenden Gegengifts, das die vollkommene Auslieferung dieser Generation an den globalen Raubtierkapitalismus, von dem sie zugleich abhängig ist, für ein paar Minuten zur Seite schiebt.

Gassmanns Anliegen ist ein politisches. Seine Figuren suchen den Weg ins Leben, doch die Umstände scheinen sie daran zu hindern. Dies bildet er metaphorisch immer wieder ab. In Thessaloniki blickt den Zuschauer das Cover von Depeche Modes LP Master & Servant an – vielsagend mit Blick auf das Verhältnis Griechenland und Europäische Union. Entsprechend wird man auch auf Demonstrationen gegen die europäische Austeritätspolitik geführt oder bekommt die bittere Realität der gesellschaftlichen Scheere von Arm und Reich bei einem Pferderennen vorgeführt.

Auch das Thema Gender- und Körperpolitik spielt eine Rolle, die Ausschläge der um entsprechende Fragen kreisenden Debatten kann man hier nicht vollkommen außen vor lassen. Auf den Körpern von Veronika, Siobhan, Caro und Penny ruht nicht nur die Hoffnung für Europas Zukunft, sondern auch die ihrer müden Männer. Und noch scheinen sie bereit, den Preis für diese Hoffnung zu zahlen.

Interessant wäre zu erfahren, wie es dazu gekommen ist, dass gerade diese vier Paare den Filmemachern einen intimen Einblick in ihren Alltag gewährt haben, doch darüber erfährt man leider nichts. Das ist insofern relevant, als dass diese Paare in ihrer lethargischen Selbstverlorenheit selbst Anlass zur Verzweiflung geben. So wie sie gemeinsam die von den europäischen Idealen Ge- und Enttäuschten repräsentieren, stehen sie auch für die Generation jener, die ihre eigene Zeit verschläft und damit zu europäischen Depression beiträgt.

»Vielleicht wachen wir eines Tages auf und stellen fest, dass wir ein vereintes Europa haben, aber nicht genug Europäer«, heißt es am Ende von Gassmanns Film. Das kann schon sein. Wahrscheinlicher ist aber im Moment, dass es dieses Erwachen in einem vereinten Europa so schnell nicht gibt. Die Europäische Union, in der wir aktuell leben, ist ein Staatenbund der Individualisten, bis zur Seelenlosigkeit ausverkauft. Den preis, den die europäischen Bürger jeden Tag dafür zahlen, den zeigt Jan Gassmann in seinem Film.

Die weiteren Vorführungstermine auf der Berlinale finden Sie hier.

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