Leonard Cohen: Wie viele Risse verträgt ein Mensch?
Den 90. Geburtstag von Leonard Cohen feiern wir mit „Anthem“ und überlegen, wie mit Leid umgegangen werden kann.
Während ständig wilder werdende Gewitter das vielleicht doch etwas zu frühe Ende der Welt ankündigen und die Vorfreude auf den Herbst getrübt ist durch die Aussicht auf Trump und weiteren Terror, finden sich immer wieder kleine Hoffnungssplitter in Dingen, die auf den ersten Blick nicht lebensnotwendig sind, aber eben doch – wie Bücher und Musik. Und es ist auch ein Trost, dass diese Bestandteile unseres Lebens unsterblich sind.
Am 21. September hätte Leonard Cohen seinen 90. Geburtstag gefeiert. Er wurde „nur“ 82, seine Stimme und seine Lieder werden ewig auf dieser Welt sein. Es ist natürlich „Anthem“, das mir durch den Kopf geht, wenn ich Anflüge von Defätismus und Hoffnungslosigkeit in mir bemerke. Zehn Jahre lang schrieb Cohen an dem Song, er hat ihn mehrfach aufgenommen und schließlich erst auf „The Future“ veröffentlicht, 1992.
„Don’t dwell on what has passed away/ Or what is yet to be“: ein guter Ratschlag. Die Kriege werden sowieso weiterhin gekämpft, die heilige Taube wird erneut gefangen werden – den endlosen, unaufhaltsamen, unbarmherzigen Kreislauf des Lebens und Sterbens hat Cohen ja schon in „Everybody Knows“ beschrieben, den der Liebe in „Closing Time“ – aber er war halt auch derjenige, der „Dance me through the panic ’til I’m gathered safely in“ gesungen hat.
Und wenn gerade nichts rundläuft, Sorge und Angst sich die Hand geben, dann pustet einem fast nichts mit so sanfter Bestimmtheit ein bisschen Zuversicht ins Herz wie diese berühmten Zeilen vom Licht, das durch Risse fällt (Sie ahnen
es!): „Ring the bells that still can ring/ Forget your perfect offering/ There is a crack, a crack in everything/ That’s how the light gets in.“
Leonard Cohen, Chris Martin und Kintsugi
Vor Kurzem erzählte Shakira, dass ihr durch die schweren Zeiten mit Scheidung und öffentlicher Demütigung ihr Kollege Chris Martin geholfen habe – der Coldplay-Sänger erinnerte sie an die Kunst des Kintsugi: In Japan wird zerbrochene Keramik traditionell mit Gold repariert. Das Kaputte wird nicht versteckt, sondern veredelt – die Schalen sind dann wieder verwendungsfähig, aber sie behalten ihre Geschichte. Kintsugi wird oft und zu Recht angeführt, wenn es um
Traumata geht, die man nicht überwinden, sondern mit denen man „nur“ leben lernen kann. Das Beste aus dem machen, was übrig ist.
Bei Schüsseln funktioniert das prima, das Problem bei Menschen ist allerdings, dass wir sie ja meistens doch gern wieder ganz heilen würden, wenn wir sie mögen. Wir verlieben uns in dysfunktionale Persönlichkeiten, weil die interessanter scheinen als Happy-go-lucky-Typen – mehr Tiefe, mehr zu erzählen. Versehrte Menschen sind spannender als langweilig glatte Schönheiten – weshalb zum Beispiel Keanu Reeves jederzeit Brad Pitt vorzuziehen ist (nicht nur wegen der riesigen Narbe auf
seinem Bauch).
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Das Düstere, Verzweifelte, Kaputte zieht an – Jim Morrison, Kurt Cobain, Pete Doherty: Die Rockmusik ist voll von solchen Figuren. Wir mögen ihren Irrsinn – und dann möchten wir sie gesund machen. Das geht natürlich nicht, weil jede:r nur sich selbst retten kann. Wir sind also relativ hilflos und können nichts so richtig steuern.
Wie hält man das aus? Vielleicht so wie Keanu Reeves: Er hat nach vielen Schicksalsschlägen beschlossen, einfach ein guter Mensch zu sein und dem Leben zu zeigen, dass es ihn nicht verbittern kann. Oder wie es ein Song der klügsten Band der Welt (R.E.M., klar) sagt: Living well is the best revenge.