Die Auenlandrevue – Erstaufführung in Deutschland: Tom Waits‘ Singspiel-Version von Georg Büchners „“Woyzeck“

Als Tom Waits Ende der Neunziger mit seiner Gattin Kathleen Brennan Lieder für seine „Opera“-Adaption des „Woyzeck“ von Georg Büchner schrieb, hat er bestimmt vieles im Kopf gehabt. Seinen Regisseur Robert Wilson zum Beispiel, Werner Herzogs Film, Wahnsinn, Wollust, Welttheater, Vaudeville und Variete – aber bestimmt nicht Oberhausen.

Doch in diesem kleinen Städtchen im westlichen Ruhrgebiet wird in der neuen Spielzeit der Waitssche „Woyzeck“ in deutscher Erstaufführung (die Songs bleiben aber natürlich unübersetzt) gezeigt. Das Theater Oberhausen ist somit neben dem Kopenhagener Betty Nansen Theater, in dem 2000 die Uraufführung des Stücks stattfand, das einzige Theater, das dieses Werk spielen darf. Die Aufregung ist daher groß an diesem Premierenabend. Spielzeiteröffnung, neue Intendanz, allerlei örtliche Prominenz, die Bürgermeisterin ist auch gekommen, und selbst die „WAZ“ war im Voraus schon ganz aufgebracht: „Führende Zeitungen haben sich angesagt“, hieß es dort, „das ZDF will kommen. ,Spex‘, das Berliner Printmagazin für Popkultur, ist vertreten und – ungleich bedeutender noch in der Szene: Das Rolling Stone-Magazin aus München, deutsche Ausgabe des legendären englischen (!) Rolling Stone Magazine, schickt einen Rezensenten.“

Der Dramaturg Rüdiger Bering habe sich „mit einer Mischung aus Penetranz und Charme über London, N.Y. und LA. bis zu Tom Waits durchgefragt“, heißt es im Programm. Da war er sicher nicht der Einzige, doch der Künstler hatte bis dahin alle Anfragen dieser Art abgelehnt. Vielleicht hat es ihm aber einfach gefallen, dass „Oberhausen“ so sehr nach Auenland, Gemütlichkeit und heiler Welt klingt, quasi als Antithese zu Büchners dramatischer Drastik (das wäre vermutlich dann eher Castrop-Rauxel) – jedenfalls sagte er dieses Mal zu, schickte ein paar „popelige Leadsheets“, wie der musikalische Leiter Otto Beatus berichtet, und überließ den Rest dem Arrangeur aus Oberhausen. Der orientierte sich dann aber vor allem an „Blood Money“, dem Album, auf dem Waits 2002 viele der Singspiel-Songs selbst angemessen theatralisch interpretierte. Regie in Oberhausen führte der Spanier Joan Anton Rechi, den man wegen seiner Erfahrungen im Musiktheater engagierte.

Einige Abonnenten maulen schon vorher ein bisschen, sie wollten richtiges Theater sehen, keine „Musicals“, aber die Erwartungen an den „Woyzeck“ sind trotzdem hoch. Ein erster Blick auf die Bühne sorgt dann allerdings bereits bei geschlossenem Vorhang für Ernüchterung: Graffiti an den Seitenwänden. Das ist ja tatsächlich oft schon alles, was dem Theater einfällt, wenn es sich einen popkulturellen Anstrich geben möchte: ein paar leere Zeichen. Als sich der Vorhang hebt, kommen noch ein paar dazu. Über einem dunklen viereckigen Klotz erscheinen in großen Lettern der „SEX“ und das „ES“. Buchstaben über der Stadt. Die Bedeutungen haben frei, die Gedanken sind noch in der Sommerpause. Hinter den Begriffen sieht man unter gedimmten Lichtgirlanden eine Art Hochzeitskapelle spielen. Letzte Reste vom Über-Ich?

Doch dann geht dem Zuschauer auf der Bühne ein Licht auf. Der Klotz ist ein Bordell! Und das heißt — wie? was? — „Sexnesse“! Wieder Freud? Oder Lacan? Oder ein Duschgel? Ratlosigkeit. Mit einem breitgermanischen Akzent, der dem zur Premiere natürlich nicht anwesenden Waits sicher gefallen hätte, führt uns eine Conferencierge auf den Waits/Büchnerischen Jahrmarkt der Wahnwitzigkeiten, wo arme Schlucker ihrem Gott im Himmel beim Donnern helfen müssen.

Das „Sexnesse“ entpuppt sich dann doch einfach als ein „popeliger“ Provinz-Puff. Wovzeck tritt als gut Bebauter junger Mann auf, der aussieht, als hätte man ihn am Prenzlauer Berg hinter einem Kinderwagen hervorgezogen – nur um ihn dann vor Publikum wieder hinter einen solchen zu stellen. Klar, das ist einer wie du und ich—nur, wie gesagt, ein bisschen besser gebaut.

Wo sind wird hier? Germanistikseminar? Deutschstunde? Eichinger-Film? Nein. Immer noch in Oberhausen. Auch wenn die Schauspieler auf der Bühne in den nächsten anderthalb Stunden alles tun, um uns das vergessen zu lassen. Ja, man hat das Gefühl, der etwas banale Beginn sei nur ein Mittel gewesen, uns aus unserem Alltag zum Besuch in einem rauschhaften Irrsinn abzuholen. Henry Meyer, der den rücksichtslosen, Woyzeck als Versuchsobjekt missbrauchenden Doktorwieeine schmierige Mischung aus Harry Smith, Matti Pellonpää und Waits selbst spielt, Michael Witte, der seinen Hauptmann auf roten lackledernen Plateauschuhen in den Camp hinabzieht und die wundervoll verruchte Susanne Burkhard, die singt wie ein in eine Bar in Bahnhofsnähe gefallener Engel, führen uns immer tiefer in die Waitssche Halbwelt. Aus Büchners fragmentarischem Telegrammstil der Seele wird eine – wenn auch mitunter von der etwas braven Inszenierung gebremste – dionysische Nummernrevue. Und die Kapelle spielt dazu seltsam unschräg Songs, in denen Waits die Figuren Büchners in einem Ozean aus Sehnsucht und Verlangen baden lässt.

Das vermeintliche Zentrum des Stücks, das sich auf der Bühne vor der dunkelroten Welt des „Sexnesse“ abspielt, bleibt dabei recht farblos. Jürgen Sarkiss spielt den Woyzeck so Zärtlich-grübelnd, dass man ihm seine Wahnvorstellungen nicht abnimmt, Nora Buzalka gibt imjeansrock eine etwas leidenschaftslose Marie, was aber auch daran liegen kann, dass der Tambourmajor (Peter Waros), mit dem sie den Woyzeck betrügt, so unschneidig und bübchenhaft ist, wie Männer in Bundeswehruniform nun einmal sind.

Erst als Woyzeck seiner Marie schließlich die Kehle durchtrennt hat und apathisch, sein Opfer in den Armen, auf dem Bühnenboden kauert, wird er ein Teil der Welt um ihn herum und lässt sich vom jämmerlichen Fluss des Lebens mitreißen. Bei diesem letzten Bild muss man an die Sätze denken, die Jean Genet über seinen „Querelle“ schrieb: „(Er) konnte sich nicht daran gewöhnen, dass er ein Ungeheuer war. Er betrachtete, er musterte seine Vergangenheit mit einem zugleich erschrockenen und zärtlich ironischen Lächeln, soweit diese Vergangenheit mit ihm selbst verschmolz.“

So schließt diese Inszenierung, die uns in eine vergnügliche, mit Waits-Songs beschallte Vorhölle irgendwo im Ruhrgebiet führte, doch noch mit einer dramatischen Note. Und als man aus dem Theater in die klare Nacht tritt, ist man nicht mehr sicher, ob man sich in Oberhausen oder Castrop-Rauxel befindet.

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