Die Zukunft des Underground-Rap findet online statt

Auf TikTok berühmt zu sein ist nur der Anfang für drei Teenager, die heute an der Spitze des modernen HipHop stehen

Wenn man herausfindet, woher ein Song des New Yorker Rappers und Produzenten Xaviersobased kommt, ist er meist schon vorbei. In „115 & LSD“ von 2021, den der 20‑Jährige als kreativen Durchbruch in seiner Musik bezeichnet, baut er in nur zwei Minuten eine Kakofonie aus exotischen Vogelpfeifen, einander überlagernden Brummtönen, überhörten Schreien, explodierenden Maschinengewehrgranaten und aufgeblasenen 808s auf. Xaviers Songs wiederholen sich oft auf halber Strecke in doppelter Geschwindigkeit, seine Stimme purzelt durch Strophen über Twerking und Trapping und Kiffen und Xbox. In „On My Own“ von seinem aktuellen Mixtape „Keep It Goin Xav“ werden rohe Rückkopplungen in den Bass unter einer nie ganz schlüssigen Schleife aus Pieptönen gelegt, wobei die tiefen Töne und tanzbaren Hi‑Hats eine ebenso lässige wie komplizierte Atmosphäre schaffen.

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Xavier hat sich als Auge und Ohr einer Bewegung etabliert, die durch zwei andere Teenager-Talente befeuert wird: den gefühlvolle Alabama-Warbler YhapoJJ, 20, der einen dunstigen, Trap-beeinflussten Sound und ein Gothic-­Image bevorzugt, das er mithilfe eines befreundeten Online-Künstlers aus der Tschechischen Republik entwickelt hat, und den 16‑jährigen Nettspend mit seinem Milchgesicht, dessen fuchsartige Gesichtszüge meist halb unter einer eisblonden Haarpracht verborgen sind, die an den spirituellen Vorfahren Justin Bieber ebenso erinnert wie an den Grunge-Gott Kurt Cobain.

Xavier, Yhap und Nett gelten als der Ereignishorizont des sogenannten Mumble-Rap und als die ersten Stühle im Orchester der neuen SoundCloud-Helden, die irgendwo zwischen Lil Uzi Vert und dem 2017 verstorbenen Lil Peep angesiedelt sind. Obwohl ihre Musik jede Menge Referenzen an die Generation Z enthält – Sponge­Bob und „Twilight“ und Fotoautomaten-Selfies von Tweens mit glatt gestrichenen Haaren –, macht keiner dieser Künstler Musik ausschließlich für Kinder. Man schaue sich nur die altersübergreifende Aufmerksamkeit an, die ihnen zuteil wird: von Online-Kids, die Videos mit ihrer Musik zusammenschneiden, von skrupellosen A&Rs mit den richtigen „For You“-­Seiten und von „New York Times“-Autor:innen, die das Phänomen ebenfalls kennen.

„Fent ­Stance“ löste den Trend aus

Aber die Musik hat eine unbestreitbare Anzie­hungskraft auf eine jüngere Zielgruppe und spielt oft eine Rolle dabei, Teenager:innen zu helfen, eine Welt zu verarbeiten, die extrem düster sein kann. Einer von Xaviers populärsten TikTok-Snippets explodierte, als er das Lied du jour für einen Trend namens „Fent ­Stance“ wurde, bei dem die Nutzer:innen die gekrümmte Pose einnahmen, die man heutzutage nur allzu gut als Folge jener tödlichen synthetischen Droge kennt, die die moderne Opioid-Epidemie anheizt.

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Lustig ist das nicht, aber es ist ein deutlicher Hinweis auf moderne Mechanismen zur Bewältigung gesellschaftlicher Missstände. Xavier, der als Produzent begann, bevor er sich auf seinen hypnotischen Flow festlegte, findet die Grundlagen für seine Beats überall: von Windows-Einschaltgeräuschen bis hin zu Schnipseln von Lärm, den er auf den Straßen der Stadt auffängt. Als Produzent hat er die Gabe, seinen entspannten Geschichten ein Gefühl von Dramatik zu verleihen: Ein Song über einen Vibrator steigert sich zu euphorischen Klavierschichten, die eines jeden Blockbuster-Romantikkusses würdig wären. Er sagt, dass er dazu neigt, spontan zu arbeiten. Yhap und Nett bestätigen das.

Nett ruft gern die Produktionssoftware Band­Lab auf, egal wo er ist, damit er direkt anfangen kann, ohne den Schwung zu verlieren. „Statt an etwas zu denken und es aufzuschreiben“, erklärt Xavier, „denke ich daran und mache es.“ Viele der Songs des Trios haben sich auf TikTok viral verbreitet, der bevorzugten App einer Post-Internet-Generation, die an eine Welt gewöhnt ist, in der sekundenlange Videos in Endlosschleife laufen können. Das vorbeiziehende Kopfkino populärer Klänge wie Xaviers „Patch­made“, Yhaps „JJETLAGG“ und Netts „We Not Like You“ setzt die Szene für Skating-Tricks, Fit-Pics und Frontkamera-Gedöns.

Ein paar Scrolls weiter unten lehnen sich die Videos noch weiter an die Shitpost-Moderne an: lebhaft gebratene Smash-Cuts der Rapper, die bei Shows oder auf Instagram live tanzen, verwoben mit Tanzduetten mit KI-Kakerlaken und Roblox-Streams.

Es ist alles extrem online, und sowohl ­Xavier als auch Yhap sagen, dass sie keinen großen Unterschied darin sehen, ob sie einen verwandten Geist per DM oder persönlich finden, solange sie in der Lage sind, den richtigen Vibe durch ein gut platziertes Sample oder ein Killer-­Meme einzufangen. „Ich kenne dich nicht und du kennst mich nicht, aber wir haben uns durch das Internet gefunden. Und jetzt machen wir zusammen Musik, die unsere Fans lieben“, sagt Yhap. „Das ist ein tolles Gefühl!“

Xavier, der in der Upper West Side geboren und aufgewachsen ist, bezeichnet seine Musik eher als „New York Shit“ denn als eines der verschiedenen Subgenres, unter denen sie online kategorisiert wird. Seine Familie lebt seit den 70er-Jahren in der Stadt, als die Familie seiner Mutter aus der Dominikanischen Republik einwanderte. Xavier und sein älterer Bruder Alexander werden später in diesem Jahr zu Besuch kommen, um sie zum Altar zu führen, wenn sie ihre Partnerin Indhira heiratet. Xaviers Mutter, Evelyn, begann in den 80er-Jahren als House-DJ zu arbeiten und legte jahrzehntelang auf Partys in Manhattan sanfte elektronische Mischungen aus Techno und populärem Rap auf. Das bedeutete, dass auf dem Familiencomputer bereits Produktionssoftware installiert war, als Xavier gerade mal groß genug war, um die Maus bedienen zu können.

Während Evelyn mit Indhira und Xavier an einem Tisch mit Fajitas in der Lower East Side sitzt, ruft sie auf Facebook ein Video auf, das zwei von Xaviers Cousins zeigt, die sich an einen Tisch mit ihren Decks lehnen und in verkabelte Mikrofone rappen. Der sechsjährige Xavier taucht immer wieder aus dem Bild auf und verdreht konzentriert seinen Kopf, seine Hände und seine Schultern, wobei er weniger daran interessiert ist, zu posen, als auf seiner eigenen Welle zu reiten. Sie erinnert sich, dass sie von einem Song verwirrt war, von dem Xavier sagte, dass er ihn zum Musikmachen inspiriert habe, weil der Sänger nicht im Takt gerappt habe. „Das ist ja gerade das Coole daran“, erklärte er ihr daraufhin.

YhapoJJ wuchs in Huntsville/Alabama auf, eine Kindheit, die von dem von seiner Mutter zusammengestellten Mix aus Toni Braxton, Tracy Chapman, Rich Homie Quan und ­Young Thug geprägt war. Aber vor allem die Art und Weise, wie Freddie Mercury von Queen eine tobende Menge dirigieren konnte, brachte ­YhapoJJ mit fünfzehn Jahren dazu, sich ebenfalls als Musiker zu versuchen. Er sagt zwar: „Das ist alles improvisiert.“ Doch das bedeutet nicht, dass er sich keine Gedanken über seinen zurückhaltenden, aber klangvollen Stil macht. Sein meistgestreamter Song, „1o“, ist ein weicher und unscharfer Loop, der mit Lachern und Anfeuerungsrufen gespickt ist, während er leise sinniert: „I got my blunt, and I’m right next to you (I’m writin’ this to you).“

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Vergangenen Dezember, bei Yhaps erstem Auftritt mit Xavier in New York, stürmten eifrige Fans den Veranstaltungsort, erklommen Feuerleitern und zerschlugen einen Ganzkörper-­Metalldetektor, bevor die Show abgebrochen und in einem Skatepark der Lower East Side wieder aufgenommen wurde. Das Chaos bei seinen Konzerten ist in den Geschichtsbüchern der Blogosphäre festgehalten.

Etwa zur gleichen Zeit machte Xavier Yhap mit Netts Musik bekannt. Inmitten einer Flut von Imitationen von Wut-Rappern und Post-Hyperpop-Einerlei stach für Xavier etwas an dem Stil des Teenagers aus Richmond/Virginia heraus. Nett gibt sich als „Bad­ass Kid“, das auf Betten springt und in dem Musikvideo zu seiner Hymne „2024 Freestyle“ Rotwein über die Laken spritzt. Trotzdem sagt Nett, dass er nicht wirklich böse sein will. Er hat drei Geschwister, fühlte sich aber in der Schule isoliert, als ob „alle anderen in einer Ecke waren und ich in einer anderen“. Er liebte ­Future, Mi­chael Jackson und, ja, Bieber, als er aufwuchs, und versuchte sich in der fünften Klasse erstmals als Rapper. Er verließ die Highschool nach seinem ersten Jahr und begann sich ernsthaft mit Musik zu beschäftigen, nachdem ein Freund festgestellt hatte, dass Nett eigentlich ziemlich gut darin war. Aber „What They Say“, der 90‑Sekunden-Song, der ihm einen Manager einbrachte, entstand sogar noch schneller. In dem Stück überschneiden sich nadelscharfe Jubelrufe mit dicken, stumpfkantigen 808s, die in verschiedenen Lautstärken abgefeuert werden, während Nett von einem einsamen Platz im Club rappt. „What They Say“ schmiegt sich so natürlich ins Ohr, dass einen der abrupte Wechsel des Beats auf halber Strecke in den Double-­Time-­Takt vollkommen umhaut.

Auch der Name Nettspend entstand im Handumdrehen. Er brauchte nur ein SoundCloud-Handle, um zu posten, woran er gearbeitet hatte, und dachte schnell an das Internet. Dennoch hat er einige lose langfristige Pläne: „Wir werden alles übernehmen.“

„Manchmal spüre ich den Druck, aber dann denke ich mir: Scheiße, ich bin mit Xav zusammen, und er spürt ihn auch!“

Der Übergang in die Öffentlichkeit gestaltet sich für alle drei Künstler wackelig und vor allem in rasantem Tempo. Nett, der in den sozialen Medien noch schneller postet und löscht, als er Musik hoch- und runterlädt, findet das Internet geradezu „beängstigend“, vor allem wenn es anfängt, von seinem Hype zu zehren. „Im Moment kann ich nur Leute um mich haben, die echt sind und denen ich vertraue“, sagt er. Yhap geht es ebenso, er sucht das Gleiche und sagt, dass er sich oft an Xavier wendet, um über den Stress in der Branche zu sprechen: „Manchmal spüre ich den Druck, aber dann denke ich mir: Scheiße, ich bin mit Xav zusammen, und er spürt ihn auch!“

Während sich viele seiner Fans vor allem in den sozialen Medien tummeln, kämpft Yhap mit sozialen Ängsten, und er ist vorsichtig beim Lesen von Online-Kommentaren. Für Xavier und Nett fühlt sich vieles in ihrer schnellen und lockeren Karriere wie eine verschwommene Erinnerung an, aber ihr 30‑jähriger Manager, ­Rennessy, der seit 2014 mit Underground-Künstlern wie Space­Ghost­Purrp zusammenarbeitet, hält bestimmte Erinnerungen fest.

An seinem Geburtstag Anfang Juli 2022, ein paar Tage nachdem er Xavier und ein paar Freunde beim Skaten im Riverside Park getroffen hatte, fand er sie bei einer Show, die nur über geheime Koordinaten zugänglich war, auf die eifrige Besucher durch eine Nachricht an einen bestimmten Instagram-Account zugreifen konnten. An diesen Koordinaten trat Xaviers gesamte Crew im Mondlicht vor einer tobenden Menge auf, während über ihnen ein Feuerwerk explodierte. ­Rennessy spürte die Kraft des Publikums, das so heftig tanzte, dass es fast ein Erdbeben heraufbeschwor, und er wusste nicht genau, was er da sah, aber es sah aus wie die Zukunft.

Unmittelbar danach nahm er Kontakt zu ­Xavier auf. Denn hinter der Viralität, den Streaming- oder den Follower-Zahlen verbergen sich Horden unbezähmbarer junger Menschen auf der Suche nach einem nächtlichen Nervenkitzel.

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