Rückblick 2022: Kulturelle Aneignung oder Darf ich noch „Winnetou“ lesen?

„Kulturelle Aneignung“ war das Buzzword des Jahres. Ein paar Anmerkungen zu einer gereizten und notwendigen Diskussion

Zu den meistdiskutierten Kulturmeldungen der vergangenen Monate zählt diese: In einer alternativ verwalteten Brasserie in Bern wurde ein Konzert abgebrochen, weil es Beschwerden aus dem Publikum gab. Auf der Bühne stand eine Schweizer Band mit dem Namen Lauwarm. Die fünf Musiker spielten Reggae, zwei von ihnen trugen ihre Haare in Form von Dreadlocks. Deswegen hätten sich einige Zuschauer mit dem Dargebotenen „unwohl“ gefühlt, begründeten die Veranstalter später ihren Beschluss. Denn beim Reggae handle es sich um die Musik indigener Jamaikaner, und wenn sich weiße Menschen bei Reggae bedienen, sei dies ein Fall von „kultureller Aneignung“ – das heißt, Angehörige einer herrschenden Kultur eignen sich schöpferische Errungenschaften von unterdrückten, ehemals versklavten oder sonst wie marginalisierten Kulturen an, ohne dazu das Recht zu besitzen.

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Schon im März war eine Musikerin in Hannover von einem Konzert der Fridays-for-Future-Bewegung ausgeladen worden – sie spielte nicht mal Reggae, hatte ihre Haare aber wie die Lauwarm-Kollegen zu Dreadlocks frisiert. Immerhin boten die Klima-Aktivistinnen ihr vorher noch an, sie könne gern auftreten, wenn sie vorher zum Friseur gehen würde. Und Ende August explodierte die Debatte über kulturelle Aneignung
in Deutschland noch einmal so richtig, als nämlich ein Film mit dem Titel „Der junge Häuptling Winnetou“ in die Kinos kam und der Ravensburger Verlag ein dazugehöriges Kinderbuch nach Protesten von Aktivist:innen wieder aus dem Programm nahm. Das wuchs sich fast zu einer Staatsaffäre aus, die „Bild“-Zeitung verhandelte die Debatte auf ihrer Titelseite, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) nahm sich persönlich der Sache an: „Winnetou und Old Shatterhand waren Idole ganzer Generationen. „Es ist falsch, dass Buchverlage und Sender aus Sorge vor Kritik Einzelner Winnetou verbannen“, schrieb er auf Twitter.

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Kulturelle Aneignung war eines der beliebtesten Reizthemen des Jahres – weil es so schön polarisiert und weil sich darin wie unter einem Brennglas wesentliche kulturpolitische Debatten der Gegenwart zeigen. Auf der einen Seite steht eine hypersensible Linke, die glaubt, dass sie marginalisierte Kulturen gegen Ausbeutung durch die Mehrheitsgesellschaft schützen muss. Auf der anderen Seite steht ein ebenso hypersensibler Konservatismus, der glaubt, dass jede Kritik an bestehenden Kulturverhältnissen und sozialen Verhaltensweisen letztlich nur auf eine ominöse „Cancel Culture“ hinausläuft, in der alles verboten werden soll, was Menschen, die sich für moralisch
überlegen halten, gerade nicht passt.

Wenn man sich dem Thema mit etwas mehr Gelassenheit nähert, kann man feststellen, dass beide Seiten recht haben und auch wieder nicht. Natürlich gibt es eine lange Geschichte der „Cultural Appropriation“ insbesondere in den USA, in der die afroamerikanische Kultur von weißen Menschen ausgebeutet worden ist, die hinterher als die wahren Pioniere erschienen. War Benny Goodman wirklich der Erfinder des Swing und Elvis Presley der König des Rock’n’Roll? Schwarze Künstler:innen und Theoretiker:innen haben zu Recht darauf beharrt, dass verfälschte Geschichtsschreibung korrigiert werden muss.

Auf der anderen Seite, um auf das Schweizer Beispiel zurückzukommen: Ist Reggae wirklich eine „indigene“ Kultur? Oder ist er nicht seinerseits aus vielen Aneignungen unterschiedlichster Kulturen entstanden? Generell ist eine Kultur ohne Aneignungen überhaupt nicht vorstellbar – das ist der blinde Fleck, der die linke Position in den Debatten belastet, ebenso wie der nicht zu leugnende Hang, allzu schnell nach Verboten zu rufen. Statt Aneignungen generell zu verdammen, wäre es fruchtbarer, sich zu überlegen, was gute von schlechten Aneignungen unterscheidet und wie man in Zukunft sensibler mit diesem Thema umgehen kann. Am Ende des Jahres, nachdem sich der Rauch der meisten Shitstorms verzogen hat, kann man immerhin den Eindruck gewinnen, dass nun reflektierter und produktiver mit dem Thema umgegangen wird.

Von unserem Autor Jens Balzer ist zu dem Thema das Buch „Ethik der Appropriation“ (Matthes & Seitz, 10 Euro) erschienen.

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