Ein vernünftiger Exzess

ALS SIE VOR VIER Jahren von Wien nach Berlin kommen, sind Ja, Panik noch zu fünft. Sie ziehen in eine WG und leben ein Bohème-Leben. Aber kein Digital-Bohème-Leben mit bunten Turnschuhen, albernen Frisuren unter Baseball-Mützen, Soja-Milch und Klick-Analysen. Ja, Panik entscheiden sich für Wein, Zigaretten, Drogen, Lyrik und Musik. Das ganze Programm an Bohème, das eben noch altmodisch Stil hat, das in seiner Konsequenz natürlich auch artifiziell und gemacht ist -wie die Start-Upper, aber eben doch schöner. Für zwei aus der Gruppe war das zu viel. Sie gingen wieder zurück nach Österreich. Jetzt sind Ja, Panik ein Trio. Wein, Zigaretten, Lyrik und Musik lieben sie immer noch. Nur mit den Drogen ist’s jetzt weniger.

Das Heroin war in Wien ja viel teurer, meint Andreas Spechtl, der Sänger und Texter. „Die Drogen hier sind tipptopp, da kommt man ganz gemütlich runter.“ Spechtls Haut ist hell, heller als die seiner Kollegen. Er sieht so aus, wie man sich einen vorstellt, der für seine Kunst durch die sieben Pforten zur Hölle und zurück geht. Ein Wahrheitssucher im vernünftigen Exzess. Er macht einen leichten Buckel. Großartig. Wirklich. Spechtl gleicht einem kultivierten Totenbeschwörer. Mit seinen dünnen Fingern kann er Blut in Schädeln anrühren. Zauberformeln durch den Wiener Dialekt veredeln. Und en passant noch eine längere Abhandlung über Schopenhauer schreiben, während er, den Kragen des Mantels nach oben aufrichtend, mit einer Selbstgedrehten im Mundwinkel in den Proberaum zu Bassist Stefan Pabst und Schlagzeuger Sebastian Janata wenige Zentimeter über dem Boden schwebt. „Das ist meine drogenfreieste Platte bis jetzt für mich“, sagt er, trinkt einen Schluck von dem Bier in der Kreuzberger Bar, in der wir sitzen.

„Libertatia“ spürt nicht die Depression vom Vorgänger „DMD KIU LIDT“, nicht die Wut, strotzt nicht vor Suizidalität. Libertatia ist ein utopischer Ort, eine Piratenkolonie bei Madagaskar im späten 17. Jahrhundert. Ein Captain Charles Johnson erwähnt es in seinen Aufzeichnungen „A General History of the [ ] Pyrates“ aus dem Jahr 1724. Charles Johnson hat es wohl nie gegeben. Wahrscheinlicher ist, dass entweder Daniel Defoe oder Nathaniel Mist der Autor ist. Jedenfalls beschäftigt sich das Album „Libertatia“ genau mit den Grundzügen von Utopien. Der Faszination daran, das eigentlich Schöne, das nicht erreichbare Paradies, und dann wiederum das Totalitäre daran. Der Schöpfer der Utopie als Alleinherrscher.

„Man denkt sich etwas aus, was auf keinen Fall im Hier und Jetzt realisierbar ist. Jenseits von diesem System. Ein Ort außerhalb des Ganzen.“ Was Spechtl da sagt, klingt nach Berlin. Nach diesen Clubs, in denen sie sich ihre eigene Welt gebaut haben, mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, außerhalb einer normalen Zeitrechnung. Die Techno-Schwulen im Berghain. Die Elektro-Neo-Hippies im Kater Holzig. Aber er will sich nicht in einer solchen Enklave wähnen. „Sich erlauben zu können, so zu existieren, ist eine Wohlstandskrankheit.“ Der sitzt, der Satz. Da steckt viel Wahrheit drin. „Libertatia ist keine Utopie von uns. Es ist kein utopischer Ort. Wir wollen aber das Denken thematisieren, den Glauben, sich dort hindenken zu können.“ Und das ist ihr „Libertatia“.

Wie furchtbar kompliziert das klingt, was eigentlich ganz einfach ist! Schlagzeug, Gitarre, Bass. Ein bisschen Achtziger in einer schwülen Nacht kurz nach dem Sex mit einer Fremden, kurz bevor draußen ein Gewitter losgeht. Dieser cineastische David-Lynch-Hall auf Schlagzeug und Bass, also so, wie die Musik bei Lynch-Filmen manchmal klingt. Aus den Tiefen einer unendlich großen Dunkelkammer, in der jemand nach Umarmungen sucht. Ja, Panik sind eine Band und keine Philosophen. Lange nicht hat jemand die Gitarre so schön träge melancholisch düdeln lassen. Der Produzent Tobias Levin hat es gut hinbekommen in Hamburg bei den Aufnahmen, genau dieses ätherische Unklare einzufangen.

Die Gedanken kreisen wieder um die Utopie, das Eiland im Indischen Ozean. Die Libertines wollten ja auch an so einen Ort. Arcadia nannten sie den, und mit dem Schiff, der Albion, segelten sie da also hin. Sie sind dort angekommen und endeten trotzdem als Schiffbrüchige.

Die Utopie ist immer ein Eskapismus. Genauso wie das Heroin. Wie das Opium. Ein warmer Ort, den es eigentlich gar nicht gibt -und man versucht trotzdem immer wieder, ihn zu finden. Den Eingang zum Kaninchenbau. Den Weg durch den Spiegel. „Libertatia existiert nur in Übersetzungen, in abertausend Auflagen und ebenso vielen Versionen. Ein Echo an den Polen, da wo sich die Kompasse im Kreis drehen.“ So steht es im Manifest zu „Libertatia“. Und vielleicht ist damit ja alles gesagt.

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