Kritik: Madonna live in Berlin – Ihr Geheimnis wird sie mit ins Grab nehmen

Für eine solide Technowumms-Show reichen heutige Madonna-Konzerte allemal. Leider mehr Pacha als Electric Circus.

Neben Paul McCartney gibt es keinen lebenden Künstler beziehungsweise keine Künstlerin, die über einen Zeitraum von mindestens fünf Jahrzehnten so viele (Nummer-eins-)Hits hinter sich gebracht hat wie Madonna. Aber es gibt einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den beiden. Madonna hat – und das ist bei wirklich allen ihrer Tourneen so – an der Darbietung eines Greatest-Hits-Programms wenig Interesse. Obwohl es so einfach wäre, einfacher denn je sogar. Diesmal hätte es nicht mal Bandproben geben müssen – bei dieser Konzertreise verzichtet Madonna erstmals auf Begleitmusiker. Maschine an und Karaoke.

Nein, sie hat kein Interesse an einer Klassikerrevue. Sie denkt sich eine Erzählung aus, eine Show. Und erst dann überlegt sie, welche Lieder dazu passen. Deshalb muss man auch sehr stark sein, wenn plötzlich die Ohren schmerzen, weil sie „Die Another Day“ intoniert. Durchatmen! Hat doch alles seinen Grund. Aus der unschönen Erfahrung mit dieser Liedproduktion und der folgenden, berechtigt weltumfassend vernichtenden Rezeption hat auch Madonna vor rund 20 Jahren etwas gelernt: Was einen nicht umbringt, macht einen stärker. Kritische Lebensereignisse wandern in die Setliste.

Die Liste der „Celebration“-Auslassungen wiederum ringt einem alles ab. „Papa Don’t Preach“, „Like A Virgin“, „Material Girl“, „Express Yourself“, „Take a Bow“, „Who’s That Girl“, „This Used To Be My Playground“, sogar das heilige „Music“ – einige davon mit Billboard-Spitzenpositionen. Passt aber diesmal nicht ins Konzept! Man darf davon enttäuscht sein, aber Madonnas Mut zur Lücke verdient Respekt.

Bei der „Celebration“-Tour geht Madonnas Erzählung, die sie für das erste von zwei Konzerten am Dienstagabend (28. November) auch nach Berlin geführt hat, und für diesen Auftritt wieder mit Neunzigerjahre-typischer Axl-Rose-Showtime-Verspätung von 105 Minuten, so: Junge Madonna Louise Ciccone zieht Ende der 1970er-Jahre von Detroit nach New York City: Studio 54, Keith Haring, Jean Michel-Basquiat (einer ihrer aktuellen Tänzer soll ihn sogar verkörpern), Fiorucci, Jellybean Benitez. Memory-Lane-Foto-Einblendungen, DIY-Bilder von Charts-Notierungen, auf denen sich ihre Frühsingle „Everybody“ neben irgendeinem Song von A Certain Ratio verirrt hat. Starke Live-Phase von ihr, sie dauert zirka 30 Minuten. Ihre Tänzerinnen und Tänzer, optisch eine Mischung aus Mad Max, Walter Hills „Warriors“, Susan Seidelmans „Smithereens“ und den Cyndi-Lauper-Goonies, bilden eine Gang um sie herum.

„Berlin ist doch die Stadt der Drogen, oder?“, fragt Madonna das Publikum. „Welche nehmt ihr denn? MDNA?“ – Lustiges, aber auch absehbares Wortspiel zu ihrem gleichnamigen Album von 2012, auf dem sie wie Minnie Mouse singt, und in deren Videos sie in Ronald-Mc-Donald-Kulissen herumturnt, die einem einfach nur Angst machen. Bei einer weiteren Ansage gegen Ende des Konzerts kommt sie auf die Drogen in Berlin zurück. Sie will die erhobenen Hände aller Leute sehen, die entweder gerade high, betrunken oder beides sind. Das Ergebnis gefällt ihr nicht. „Ihr seid hart zu knacken“, sagt Madonna.

Madonna

Zunächst aber kommt im zweiten Teil der Show die „erwachsene“ Madonna, die Sex-Madonna im Clinch mit Kirche und Glauben, „Like a Prayer“, „Justify My Love“, „Erotica“. Nicht die beste, aber die coolste Madonna. „Pepsi“-Stress, Vogueing, „Sex“-Bildband. Von 1989 bis 1992 war das. Hochdramatisch angekündigt durch die tiefen Bibulibus-artigen Gesänge von Mönchen; bemäntelte Tänzer mit ins Gesicht gezogenen Kapuzen marschieren traurig über die Kreuzbühne, mit gefesselter Madonna im Schlepptau. Hat was von Michael Cretus Enigma-Projekt, das ja auch in die Zeit um 1989/1990 fiel. Ziemlicher Quatsch, diese Klosterbrüder-Einlage, da hätte Madonna besser jemanden auf die Bühne stellen können, der auf der höchsten Etage angesiedelt ist, einen älteren Herrn, der ihren „Like a Prayer“-Antagonisten Papst Johannes Paul II verkörpert.

Und schließlich Phase drei, die gelassene Madonna, der Spätsommer ihrer Karriere. Die Strategin. Projekt Klassenerhalt. Madonna ist sehr schlau, aber als herausragende Komponistin ist sie leider nicht bekannt. Gegen Ende der 1990er-Jahre hatte sie endlich die Macht, ihre Trendscouts rund um den Globus zu senden, damit die die besten Töne und Produzenten für sie einkaufen, und sie hatte die Autorität, um Samples von Abba zu bekommen. In dieser Ära entstanden jene Evergreens, die wie Meta-Songs aus Parallelwelten klingen, und mit denen sie den Schlussteil der rund 120-minütigen Show einleitet: „Hung Up“ und die Eso-Hymne „Ray of Light“. Hier hätte eigentlich „Music“ kommen müssen – ihr French-House-Galastück, das zugleich das Ende von French House, der wohl besten Dance-Music der späten 1990er-Jahre, bedeutete. Ausverkauf. So ist das, wenn ein Riesenstar von außen kommt und in einen geschlossenen Kreis tritt. Danach ist darin alles kaputt.

Dass Madonna für diese Retro-Celebration keine Band engagiert hat, sollte eigentlich nicht schlimm sein. Livemusiker hatten nie eine Rolle gespielt, nicht mal bei der „Blonde Ambition“-Tour von 1990. Oder kann sich jemand an die Namen ihrer Gitarristen erinnern? Die Tänzerinnen und Tänzer sind nun ihre Band. Einige von ihnen tanzen oben ohne, manche wirken genderfluid, was möglicherweise die Oben-ohne-genderfluid-Premiere für eine Show in der Halle am Berliner Ostbahnhof darstellt.

Nein, wichtig ist: Madonna singt live, und dafür, dass sie beim Singen tanzt, und dafür, dass sie 65 Jahre alt ist (hier ein Verweis auf ihr Alter, aber es bleibt der einzige Verweis auf ihr Alter – die ganze Diskussion um sie ist komplett vergiftet), singt sie live gut. In „Erotica“ inszeniert sie einen Beischlaf mit einer Tänzerin, die sich als ihr jüngeres Ich verkleidet hat. Die narzisstische Darstellung einer Sehnsucht nach ewiger Jugend? Vielleicht auch nur eine gelungene Einlage ohne Hintergedanken.

Erzählung gut, Stimme gut, Einstellung gut. Was nicht gut ist: Das Arrangement ihrer Lieder, ein Continous-Sequence-Megamix, Ausdruck einer oft ungünstigen Neuinterpretation der ursprünglich doch ansehnlichen Vergangenheit. Bands brauchen Pausen, Bandmaschinen nicht. Leider.

Und so fleißig Madonna darin ist, ihre biografischen Stationen abzugrasen, so kontrastreich sind in fast allen Fällen die neuen Instrumentierungen. Madonna besucht frühere Stationen, aber sie besucht nicht ihre früheren Klänge. Sie unternimmt Zeitreisen in Epochen, die sie beherrscht, aber nicht mit den Sounds, die damals dazugehörten. Jetzt klingt alles nach Ibiza. Mehr nach Pacha und weniger nach Electric Circus.

Madonna

Das ewige Madonna-Problem: Wer für seine Zeit aktuell klingt, aber nie zeitlos, klingt morgen alt. „Holiday“ fällt diesem Remodel mit Fett-Beats zum Opfer, ebenso „Into The Groove“. Für „Burning Up“ erzeugt Madonna mit einer E-Gitarre Feedbacks vor einem Verstärker, dazu gibt es Einblendungen vom East-Village-Punkclub CBGB. Nur: Das 1983er-Lied war nie Rock, sondern New Wave. Warum nun Rock? Weil Hardrock 1983 das Genre der Stunde war, aber Madonna damals nicht die Mittel hatte, sich das anzueignen? In solchen Momenten scheint sie sich an ein (Bühnen-)leben zu erinnern, das sie nie lebte. Anderen Stücken beraubt sie deren Merkmale komplett: „Justify my Love“ wird zur Slow Opera, ohne jenen Public-Enemy-Rhythmus (um den es mit Public Enemy einigen Zoff gegeben hatte).

Ein charmanter Moment entsteht, als Madonna das Gitarren-Feedback von „Burning Up“ nutzt, um in das possierliche „Open Your Heart“ überzuleiten, einem ihrer besten Songs. Dazu trinkt sie einem Schluck aus der Bierflasche; im Video von 1986 spielte sie noch eine Straight-Edge-Peepshow-Tänzerin und bediente sich sympathisch-flacher Flirt-Symbolik: „I hold the lock and you hold the key“.

Überhaupt sind die Songs aus dem „True Blue“-Album in diesem Programm die gelungensten: „La Isla Bonita“ ist ein herrlicher Schlager (der Michael Jackson 1986 für die „Bad“-Aufnahmen erfolglos angeboten worden sein soll), wenn auch im „Celebration“-Modus etwas zu Wir-klatschen-auf-1-und-3-stampfig. Höhepunkt ist „Live To Tell“. Eine Ballade, die langsam bleiben darf, kein 2023er-Makeover erhalten hat. Darin geht es um Weitergabe von lebenswichtigem Wissen. „Hope I live to tell /The secret I have learned, ‚til then / It will burn inside of me“.

Auf dieser Tournee widmet sie „Live To Tell“ den Aids-Opfern, lässt Porträtfotos einblenden, unter anderem von Arthur Ashe und Keith Haring. Weitere Tote, derer Madonna gedenkt, sind Prince und Michael Jackson, mit denen sie nicht nur das Pop-Titan-Triumvirat der 1980er-Jahre bildete, und mit denen ihr Affären angedichtet wurden, sondern: mit denen sie vor allem denselben Jahrgang teilt. Madonna hat beide überlebt. Sie ist noch da. Jackson huldigt sie mit der Nachempfindung seines legendären Tanz-Schattenrisses auf einer Leinwand, Prince eher schwach mit einem verkleideten Tänzer, der in einem lilafarbenen Strampelanzug steckt, zu Playback-Klängen auf die Prince-typische Cloudgitarre haut und dessen kettenverhangene Cop-Mütze aus dem „My Name is Prince“-Video trägt. Nun ja. Zumindest in solchen Momenten wird ersichtlich, dass das Tourmotto „Celebration“ nicht nur die Feier von Madonnas eigenem Leben bedeutet.

„Hope I live to tell /The secret I have learned, ‚til then / It will burn inside of me“, singt Madonna also in „Live To Tell“. Das ist ja gerade der Witz: Mit vielem, was sie gemacht hat, in vielem, was sie erreicht hat, war sie die erste. Vielleicht auch die beste. Warum also sollte sie ihr Geheimnis jemandem anvertrauen? Sollte sie ihr Geheimnis verraten, könnten andere mit ihr gleichziehen. Und so werden wie sie.

Sie nimmt ihr Geheimnis besser mit ins Grab, auch wenn das Schweigen in ihr brennt.

Kevin Mazur WireImage for Live Nation
Kevin Mazur WireImage for Live Nation
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