Notting Hillbillies: Ein Treffen mit Blur

London, Marokko und Mars: Blur suchten im April 2003 das wahre Leben - und Birgit Fuß besuchte die Band in ihrer Heimatstadt London, um über das damals brandneue Album "Think Tank" zu sprechen. Zum Release der Blur-Box "21" holen wir die Story aus unserem Archiv.

Für unsere Titelstory im April 2003 reiste Birgit Fuß nach London, um mit Damon Albarn über das damals neue Blur-Album „Think Tank“ zu sprechen – und über den Abgang von Graham Coxon. Dass heute die Blur-Box „21“ erscheint, halten wir für eine gute Gelegenheit, um diese Story aus dem Archiv zu holen. Am Ende des Artikels findet sich dann übrigens die von uns im Video-Countdown angekündigte Verlosung. Wenn Sie ständigen Zugang zu unserem riesigen „DAS ARCHIV – Rewind“ haben wollen, das neben dem kompletten ROLLING STONE auch alle Ausgaben des Musikexpress und des Metal Hammers enthält, finden Sie hier alle Informationen und Preise.

Es hat sich viel getan bei Blur. Erst feierte Damon Albarn mit den Gorillaz ungeahnte Erfolge, dann seilte er sich nach Mali ab. Schließlich kam er zur Band zurück – und Gitarrist Graham Coxon stieg aus. Wie sich das alles auf das neue Album „Think Tank“ ausgewirkt hat? Nur zum Besten, glaubt der Sänger, der seine Vormachtstellung im Trio nicht verbirgt: „Gemacht wird, was ich sage.“ Aber Albarn, der angeblich gar nicht gern über sich selbst redet, hat noch mehr zu erzählen – über das Leben in Afrika und das Leid mit Amerika, sein neues Leben als Familienvater und die Vorteile von musikalischer Polygamie.

West-London, irgendwo zwischen Nottinghill Gate und der großen Autobahn, die nach Norden führt. Eine seltsame Mischung aus Exklusivität und vorgetäuschter Kleinbürgerlichkeit lockt hier Firmen an, die sich früher lieber ein schickes Loft in Camden Town gemietet hätten. In einem riesigen Fabrikgebäude, zwischen sozialem Wohnungsbau und putzigen Mini-Villen sitzt nun auch das Management von Blur. Riesige Poster aus guten Zeiten hängen an den Fenstern: „Parklife“ und – wo passte es besser hin als hier „Modern Life Is Rubbish“. Damon Albarn hat schon viel vom alltäglichen Leben gesungen, aber heutzutage lebt er es gnadenlos aus. Er hat – das ist eben doch der Millionärs-Vorteil – eine Farm in Devon, aber auch ein Haus um die Ecke, und seine Tochter geht hier zur Vorschule. Auf der Straße, behauptet Albarn, drehe sich in der Gegend kaum einer nach ihm um.

Drinnen, im Monster-Komplex der „Westbourne Studios“, sieht es aus wie in einem dieser Designer-Hotels, wo nichts zusammenpasst und genau das schön sein soll. Man lässt sich auf Legostein-artigen Stühlen und unförmigen Sitzsäcken nieder, die Füße auf Flokkati-Teppich gebettet. An den Wänden hängen Warhols, die quietschbunten Lampen sehen nach Sixties aus, stammen aber aus dem Großkaufhaus „Selfridges“, wie ich Stunden später enttäuscht feststellen muss. Die Räume werden nur durch weiße Vorhänge getrennt Alles Lst cool, alles ist lässig, alles ist trotzdem wahnsinnig schick – und das Einzige, was hier gar nicht reinpasst, ist Damon Albarn.

Der wirft erst mal seine Turnschuhe in die Ecke, merkt dann aber, dass er ein großes Loch in den rosa Socken hat – und versucht eine halbe Stunde lang, das zu verbergen. Ein bisschen derangiert sieht er sowieso aus – als habe er sich im Dunkeln angezogen. Das Shirt passt nicht zu den Baggy-Pants. an seiner Goldkette hängt ein zweckentfremdeter Manschettenknopf, die angeschmutzte Kappe – verziert von einem herzförmigen Button mit Peace-Zeichen – verbirgt die wirren Resthaare.

Er schmeißt sich auf das Sofa und seufzt erst mal herzzerreißend. Reibt sich die Augen, gähnt und verlangt nach Kaffee und Kippen. Dies ist das erste Interview, das er zum neuen Blur-Album „Think Tank“, das am 5. Mai erscheint, gibt. Schon müde, bevor der Zirkus überhaupt losgeht? Damon zuckt mit den Schultern, eher verzweifelt als gelangweilt. Jch habe in meinem Leben schon so viele Interviews gemacht, so viel Promotion in so vielen Jahren. Ich muss erst mal durchatmen, dann geht’s los.“

Man spricht ja gern von Neuanfangen, wenn es doch nur um ein neues Album geht, aber bei Blur hat sich seit dem letzten Werk „13“ von 1999 tatsächlich so viel verändert, dass man heute kaum noch die Pop star-Spacken von einst erkennen kann – die champagnertrinkend und sonstwie benebelt alberne Interviews gaben und beim Kampf gegen Oasis schließlich den Kürzeren zogen, weil sie zu wenig norking dass waren. Heute gibt sich Damon Albarn nicht mehr die Mühe, seine Schulbildung zu verbergen, und er schert sich auch nicht darum, dass die Ereignisse der letzten Monate manchen an der Zukunft von Blur zweifeln ließen. Der enorme Erfolg seiner nur als Nebenprojekt geplanten Dance-HipHop-Zeichentrick-Pop-Band Gorillaz hat ihn selbst überrascht, zumal er weder viel Werbung gemacht noch sich selbst dafür in den Vordergrund gestellt hat. Und gerade als er auch bei Unter-16-Jährige wieder hip war, reiste Albarn nach Mali, ausgerechnet. Musizierte mit einheimischen Musikern, die zumindest im Pop-Gewerbe kein Mensch kannte, und nannte das Album schlicht JWali Music“ (siehe Kasten). Das Interesse war, sagen wir mal, bescheiden.

Im September vergangenen Jahres dann die nächste, ungleich größere Überraschung: Graham Coxon warf das Handtuch. Zuerst gab es nur Gerüchte, denen der Gitarrist vehement widersprach: „Ich kenne Damon, seit ich zwölf bin. Wenn wir mal streiten, legt sich das schnell wieder.“ Vbn wegen. Wenige Wochen später rückte er mit seiner Version der Geschichte raus: „Wir waren seit Jahren keine Freunde mehr, und es ist gut, nicht mehr so tun zu müssen, als ob. Am Ende waren wir nur Geschäftsparner, und das ist die verdammte Wahrheit.“

Es kann keine leichte Entscheidung für Coxon gewesen sein, auch wenn er schon drei Soloalben hinter sich hatte. Immerhin galt er als das musikalische Genie der Band, der introvertierte Spinner, der schuld daran war, dass „13“ so großartig wurde und Blur den Pop transzendiert hatten. Vor allem war es aber wohl eine Entscheidung in letzter Minute, denn bei Albarn hört sich das so an: „Wir hatten vorher alle keine Ahnung, was wir machen sollten. Wir kamen am ersten Tag der Aufnahmen zusammen, um das zu bereden nur der Gitarrist tauchte nicht auf. Hm. Was machen wir nun? Fangen wir an oder lassen wir die ganze Sache einfach sein? Ich kam zu Blur mit sehr gemischten Gefühlen zurück, mit einer Menge Skepsis. Ich wusste nicht, ob ich es noch mal machen will“ Warum? „Well, you know, because…“ Damon macht eine lange, lange Pause. Jetzt bloß nichts Falsches sagen. „Ich wusste nicht, ob ich mit den Musikern von Blur noch einmal zusammenarbeiten könnte. Aber es stellte sich heraus, dass es zwar so war, als müsse man noch mal ganz von vorne anfangen. Aber das war gut – wir konnten experimentieren, ohne Ballast. Wir tarierten die Band völlig neu aus, und ich fing an, mehr und mehr Songs einzubringen, weil ich merkte, dass es funktionierte.“

Im Internet, auf www.blur.co.uk, kann man im Tagebuch von Bassist Alex James nachlesen, wie das so war bei den Aufnahmen. Er erzählt auch, dass er sich die Achseln rasieren ließ (es hat weh getan), wie gern er ein Schloss hätte („Träume werden irgendwann wahr, das ist unvermeidlich“) und dass er mit Graham Coxon einkaufen war. Zumindest er hat sich wieder vertragen mit dem ehemaligen Kollegen, auch wenn die beiden lieber nicht über Blur sprechen. Von der Studioarbeit zu „Think Tank“, die in Devon begann und in Marrakesch, Marokko, endete, berichtet James oft mit den gleichen Worten: „All is good.“ Allerdings erwähnt er auch Details, die Albarn lieber geheim gehalten hätte. Dass Blur an einem Song namens „Elton John’s Cock“ gearbeitet hätten, will Albarn nicht bestätigen: „Das hat nichts mit mir zu tun!“ Zögernd fügt er dann hinzu: „Wir hatten viele Songs, um die 30. Ich hätte gern 20 auf dem Album gehabt, aber sowas geht schlecht Also blieb einiges auf der Strecke.“

Albarn weiß, dass das leicht lächerlich wirken kann: Das Millionärs-Trio Blur schafft massenweise Studio-Equipment nach Marokko, um sich dort gepflegt inspirieren zu lassen und – von Armut und anderen Sorgen der Einheimischen weitgehend unbehelligt ein paar Popsongs aufzunehmen. Aber Damon wollte einfach raus. Der Großteil des Albums entstand in Devon, doch der Drang in die Ferne war übermächtig. „Wir wollten noch etwas anderes machen, und da fiel mir Marrakesch ein. Ich habe seit vielen Jahren das starke Gefühl, dass wir die arabische Welt zu wenig verstehen. In letzter Zeit hat sich das ja auf die schlimmste Weise manifestiert Ich finde, wir haben die Verpflichtung, eine Art Dialog aufrechtzuerhalten. Denn das ist alles, was es ist: ein Dialog.“

Natürlich war es das Mali-Projekt, das ihn Geschmack finden ließ an der Arbeit auf einem anderen Kontinent. „Man kann nicht nach Afrika fahren, ohne davon extrem berührt zu werden. Diese Natur, dieses Leben, diese Musik – das ist sehr inspirierend. Ich weiß, dass es komisch klingt: ein Studio in Marokko. Aber warum soll man nicht mal was anderes machen? Ich wollte einfach noch mehr von Afrika sehen. Marokko ist ja ganz anders als Mali – in vielerlei Hinsicht ein recht progressives Land. Es ist also viel einfacher, dort in der Wüste ein großes Studio aufzubauen. Im tiefen Afrika wäre es logistisch Wahnsinn gewesen. Es hat so schon zehn Tage gedauert, bis wir unseren Kram vom Zoll in Tanger zurückbekamen. Das Zeug in ein Land wie Mali zu schaffen hätte einen Monat dauern können – Korruption ist da ein Teil des täglichen Lebens.“ Schlimmer als im Musikgeschäft? Er lacht. Und sagt lieber nichts.

Im Dezember hatte Albarn noch verkündet, er werde den Ausstieg von Graham Coxon nicht kommentieren. „Das ist privat, und damit verschwenden wir unsere Zeit nicht, auch wenn die Presse das will. Die haben sowieso keinen Respekt vor privaten Dingen.“ Inzwischen muss er es sich anders überlegt haben. Er kneift zwar die Augen zusammen, als der Name des Gitarristen zum ersten Mal fällt, gibt dann aber bereitwillig Auskunft.

Habt Ihr Graham zu Beginn vermisst?

Für mich war es gar nicht komisch, ohne Graham zu arbeiten, weil ich in den letzten fiinfjahren so viele Platten ohne ihn gemacht hatte. Ich war es gewöhnt…

Aber als Band, bei Blur – da gehörte er doch dazu.

Ich sehe die Dinge nicht so. Es ist irgendwie eine kindische Vorstellung, ,in einer Band‘ zu sein. Ich arbeite mit Musikern, ich bin nicht in so einer kleinen, klaustrophobischen Gruppe. I’m happy to work with anyone. Natürlich hat eine Band manchmal was von einer Familie. Aber ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich ein monogamer Musiker sein muss. Das hebe ich mir für meine Beziehung auf. Als Songwriter arbeitet man mit vielen Leuten – einfach weil man viele Songs hat Die sollen ja nicht verrotten, nur weil sie nicht zu einer bestimmten Band passen.

Wie lange hat es gedauert, bis du wusstest, dass es wieder funktionieren würde mit Blur?

Nach einer Woche war klar, dass das was wird. Es war aufregend. Alle hatten ihre Vorurteile und festen Vorstellungen über Bord geworfen. Da war ich überzeugt, dass wir es noch einmal anpacken sollten, als diese Band, mit diesem bestimmten Sound. Und dann habe ich mich mit voller Kraft reingeworfen.

Beim Song „Battery In Your Leg“ ist dann aber doch Graham zu hören.

Das war das Letzte, was wir zusammen gemacht haben. Und der Song handelt davon, wie es ist, in einer Band zu sein. Es ist so was wie ein Resüme der Band als Quartett. Ich wollte ihn immer auf dem Album haben, es ist ein toller Song. Anfangs dachte ich ja auch noch, wir könnten irgendwie weiter zusammenarbeiten. Aber leider ging das nicht. Es war nur ein Einzelfall, aber ich bin stolz darauf.

Bereust du seinen Abgang?

Es tut mir schon Leid. Keiner beendet gern eine so lange Beziehung. Das ist – hoffentlich – wie bei einer Familie. Da redet man manchmal auch jahrelang nicht miteinander, und irgendwann findet man wieder zueinander. Ich hoffe, dass das auch bei uns der Fall sein wird. You know?

Und damit ist es gut. Das bestimmte Kopfnicken von Albarn beendet diesen Teil des Gesprächs. Genug Graham. Aber dann ist da ja noch Dave Rowntree – und der, scheint es, hatte als Schlagzeuger diesmal weniger zu tun als sonst. Zumindest klingt es, als benutzten Blur heftig Drum-Maschinen. Doch Damon widerspricht: „Dave klingt ein bisschen wie eine Drum-Maschine. Er ist sehr akkurat, ein sehr guter Trommler. Wir haben wirklich nicht viele Maschinen benutzt. Und wenn, dann war das okay für Dave. Was immer das Beste ist, wird auch genommen. Da gibt’s kein Ego-Problem.“ Denn das größte Ego hat immer noch Albarn, und der sieht gar nicht ein, warum das anders sein sollte. Er ist der Chef der Band – von Demokratie wird hier nicht gefaselt. „Ich bin sehr tough, allen gegenüber. Ich mache immer deutlich, dass ich die Songs schreibe. Im Grunde ist dies meine Band, und es wird gemacht, was ich sage. Wenn man dabei sein will, muss man mit voller Kraft dabei sein, absolut fokussiert und nur darauf bedacht, dass das Resultat gute Musik ist. Wenn das nicht geht, mach ich’s eben selbst. Oder mit anderen Musikern. Es ist eigentlich so einfach.“ Und doch will er noch betonen, dass es nicht darum geht, sich selbst wichtig zu nehmen: „Ich möchte, dass mein Ego nur in der Qualität der Musik rauskommt, nirgends sonst. Ich habe zugegebenermaßen ein großes Ego, aber das stecke ich in die Musik. Da gehört es hin. Ich will kein Großkopf sein, bloß ein guter Musiker.“

Und die Musik auf „Think Tank“ ist gut. Beim ersten Song, „Ambulance“, wiederholt Albarn mantra-artig „I ain’t got nothing tobescaredoP-und so klingt das Album dann auch. Es gibt viele Beats, aber genauso viel Krach. Immer, wenn man denkt, jetzt klingt die Band so entspannt, dass sie gleich einschläft, haut einen eine wilde Schleife aus der Lethargie. Es geht um Liebe und Loslassen, um Einsamkeit und den Tod, um Politik und Eskapismus. Es geht um Damon Albarn, aber dann auch wieder nicht: „Viele Songs sind wie ein Dialog mit mir selbst-oder mit den Leuten, die in meinem Leben eine Rolle spielen. Dennoch ist mir wichtig, dass sie nicht enigmatisch oder unzugänglich sind. Man kann sie auch verstehen, wenn man mich gar nicht kennt.“

Die erste Single, „Out Of Time“, wiegt die Hörer vielleicht noch in der Sicherheit, dass dies die alten Blur sind, aber schon mit der zweiten, „Crazy Beat“, werden sie einige Pop-Freunde verstören. Von Fatboy Slim produziert, klingt es wie ein wüsteres „Song 2“ – und wenig radiokompatibel. „Oh no, it’s a massive hit! Really!“, echauffiert sich Albarn. „Okay, der Text handelt davon, einem Präsidenten – keinem bestimmten – Ecstasy zu geben, das könnte problematisch werden. Aber ansonsten: Hit!“ Wie das komplette Album, wenn man den Sänger fragt. Damon macht gar keinen Hehl daraus, dass er großen Wert auf den Erfolg legt. „Natürlich soll die Platte viele Leute erreichen. Wir sind kein exklusiver Club.“ Über einen möglichen Misserfolg denkt er gar nicht nach. „Dieses Album klingt für mich nicht, als würde es wenig verkaufen. Manche klingen so, und das ist auch okay, man kann das gar nicht beeinflussen. Zumindest nicht, wenn man kein Zyniker ist. Ich habe schon Platten gemacht, die sich gar nicht verkauft haben – und welche, die extrem erfolgreich waren. Das ist alles Zufall.“

Neu ist jedenfalls, dass Blur jetzt Titel haben wie „Moroccan Peoples Revolutionary Bowls Club“ und Albarn Zeilen singt wie: „If we go and blow it up, then we will disappear.“ Der Song wirkt wie die Fortsetzung von „Don’t Drop The Bomb When You Are The Bomb“, jener Single, die Blur vor wenigen Monaten in einer Mini-Auflage von 500 Stück produzierten und nur als Weißpressung an DJs und andere Meinungsmacher verschickten. So viel Spaß es früher gemacht hat, sich über das spießige England lustig zu machen -jetzt hat Albarn andere Sorgen. Er engagiert sich seit Monaten gegen einen Krieg im Irak und organisiert Demonstrationen. „Ich schreibe schon immer noch aus einer sehr britischen Perspektive, aber ich schätze, meine britische Perspektive ist einfach sehr weit gereist in den letzten Jahren. Da bleibt es nicht aus, dass man manches anders sieht.“ Ob man als Popmusiker mit solchen Aktionen wirklich etwas verändern kann? Albarn nimmt die Kappe ab, um sich beinahe theatralisch die Haare zu raufen. Er schüttelt mehrfach den Kopf und kann sich nicht entscheiden. „Ich weiß es nicht! Ich glaube, man kann Politiker nicht direkt beeinflussen, aber man muss seine Meinung sagen, und wenn andere dieselbe Meinung haben, dann… Ich weiß nicht, das ist gut. Heutzutage hängt so viel davon ab, wie oft etwas in den Medien wiederholt wird. Wenn etwas oft genug gesagt wird, tendiert man dazu, es zu glauben. Ich bin absolut nicht anti-amerikanisch. Das wäre lächerlich. Wir leben alle in demselben System – man kann doch Amerika nicht von Großbritannien oder Deutschland trennen. Ich bin auch kein Anarchist oder so. Ich finde nur, wir müssen mehr über das nachdenken, was wir tun. So sollte doch Demokratie sein: Man muss auch mal widersprechen dürfen.“ Dass er demnächst in einen Topf mit „Gutmenschen“ wie Bono und Sting geworfen werden könnte, stört Albarn nicht. „Wenn die Leute so darauf reagieren, wäre das zwar enttäuschend. Aber ich hatte so viele Backlashs, mir ist das egal. Es ist praktisch ein Teil meines Jobs.“

Falls es auf der Erde demnächst zu ungemütlich wird, haben Blur auch schon einen Plan: Sie wollen zum Mars. Die Band unterstützt die Aktion JBeagle 2 Mars“, eine Mission, die für Ende des Jahres geplant ist und klären soll, ob es Leben auf dem vierten Planeten gab oder gibt. Das Tonsignal, mit dem die Datenübertragung vom Mars gestartet werden soll, haben Blur schon ’99 erfunden. Albarn will das Thema nicht vertiefen, „das würde jetzt zu weit fuhren“, aber Alex James ist immer noch sehr engagiert dabei. Im Empfangsbereich der „Westbourne Studios“ liegen etliche Infozettel, Postkarten und Newsletter zu „Beagle 2“. Notting Hill, Mali, Marrakesch, Mars – Blur scheinen sich überall wohl zu fühlen.

Ihr Lebensstil hat sich dermaßen geändert, dass James vor einigen Monaten im „Observer“ schrieb: „Ich weiß gar nicht, warum ich so viel getrunken habe. Vielleicht, weil ich Angst hatte, weil mir langweilig war oder weil ich nicht wusste, wer ich bin… Beim Trinken geht es immer um die Möglichkeiten des Jetzt. Beim Nicht-Trinken geht es um die Verheißungen der Zukunft.“ Eine Million Pfund will er in drei Jahnen für Champagner ausgegeben haben – jeden Tag gab es zwei Flaschen, nur mittwochs nicht. Zusätzlich musste er pro Flasche zwei Karotten essen, um schlechten Atem zu verhindern – freilich eine billigere Angelegenheit. Es sind solche Geschichten, die einen doch daran zweifeln lassen, ob Blur je wieder ein normales Leben fuhren werden.

Wie sehr hat sich euer neuer, etwas gesünderer Lebensstil denn auf die Musik ausgewirkt?

Oh, sehr! Meine Stimme hat sich sehr verändert. Es liegt wohl auch daran, dass ich jeden Tag Dampf inhaliere. Außerdem hat sich die Stimme einfach geöffnet, ich bin erwachsener geworden, reifer- ich habe einfach verdammt viel mehr gelebt. Jetzt kann ich wirklich singen, was ich empfinde. Meine Stimme hat einfach viel, viel mehr Verbindung zu meinen Gefühlen. Das verändert alles – auch die Art, wie ich schreibe. Diesmal – und das gefällt mir an dem Album am allerbesten – habe ich mich richtig wohl dabei gefühlt, lovely melodies zu schreiben. Darin bin ich gut, darin war ich immer gut. Aber ich musste darum kämpfen, weil es mir früher immer ein wenig peinlich war, dass ich so hübsche Melodien schreibe. Jetzt kann tiefer, mit mehr Seele singen, und da kommen mir die Melodien irgendwie adäquater vor.

Dann fühlst du dich jetzt wohler als Sänger und Songschreiber?

Fuck yeah. Das ist einfach ein Aspekt des Erwachsenwerdens, das ist kein Geheimnis. Es ist natürlich viel schwer, erwachsen zu werden, wenn man Jahr um Jahr um Jahr in dieser erfolgreichen Luftblase lebt. Aber irgendwann ist es soweit. Wenn nicht, wird’s tragisch. Das Leben wird armseliger und armseliger; wenn man nie erwachsen wird. Für midi war der Wendepunkt natürlich meine Tochter. Vater zu sein, verändert alles. Man nimmt sich nicht mehr so wichtig.

Aber denkt man nicht auch manchmal voller Nostalgie an die Parties zurück?

Selten. Ich liebe meinen Job, ich liebe das Musikmachen. Die Bedingungen sind jetzt einfach optimal. Mein Studio ist um die Ecke, ich wohne um die Ecke. Der Erfolg erlaubt es mir, die Arbeitsbedingungen selbst zu bestimmen. Meine Begründung, warum alles so nah bei meinem Haus sein muss, ist simpel: So kann ich den Alltag und die Arbeit unter einen Hut bringen. Ich gebe Interviews, während meine Tochter in der Schule ist Das ist prima. Ich hätte ein Problem damit, das zu machen, wenn sie zu Hause ist. Ich will nichts verpassen. Es ist mir wichtiger, bei meiner Familie zu sein. Sicher ist Musik auch sehr, sehr wichtig, aber mit Einschränkungen.

Fiel es dir schwer, einzugestehen, dass die Musik nicht mehr an erster Stelle steht?

Schon. Zuerst hatte ich fast ein schlechtes Gewissen. Aber komischerweise bedeutet mir die Musik dadurch mehr als früher. Wenn ich mir jetzt Zeit dafür nehme, dann nutze ich sie auch richtig. Ich verschwende nicht Stunde um Stunde, sondern arbeite sehr zielstrebig. Mein Output hat sich praktisch vervierfacht, seit ich ein Kind habe. Das scheint unlogisch, aber es ist so: Man hat weniger Zeit, aber man tut mehr.

Damon Albarn muss auch eine Menge tun, denn die nächsten Monate sind längst verplant- auch wenn ihm das nicht recht geheuer ist. „Wenn ich wüsste, wie es mit der Irak-Krise weitergeht und was unsere Pläne als Spezies sind, fiele es mir leicht, über meine persönliche Zukunft nachzudenken. Manchmal frage ich mich, wie wir aus diesem Chaos rauskommen wollen.“ Ganz pragmatisch zählt er schließlich doch auf, was zunächst ansteht: weltweit Promotion für „Think Tank“, dann ein Film mit den Gorillaz- Comic-Zeichner Jamie Hewlett arbeitet schon an den Story-Lines um Murdoc, 2D, Noodle und Russel, im nächsten Jahr soll das Werk fertig sein. „So was dauert sehr, sehr lange. Die Gorillaz ziehen sich also erst mal zurück, wir machen unsere dayjobs, und dann werden wir irgendwann wieder zusammenfinden und den Soundtrack aufnehmen.“ Überbewerten möchte er sein Engagement bei den Gorillaz ganz offensichtlich nicht. „Das ist eben keine Band, sondern eine Idee. Vielleicht führen wir den Soundtrack mal live auf, aber wir werden nicht U2 werden. Darum geht es nicht Vielleicht machen wir auch was ganz anderes. Politik oder einen Partyservice oder was weiß ich.“

Mit Blur will Damon eigentlich schon auf Tournee gehen, aber nicht auf Kosten seines Familienlebens. Irgendwie soll es klappen – ein paar Gigs hier, ein paar da. Oder so. „Ich weiß nicht… ich kann es nicht sagen“ Ich liebe Konzerte… Ich sage nicht, dass wir nicht touren… Aber lange Touren gehören definitiv der Vergangenheit an.“ Puh, doch noch einen einwandfreien Satz geschafft. Einen Ersatz-Gitarristen haben Blur immerhin schon gefunden: Simon Tong, ehemals bei The Verve. „Er war der zweite Gitarrist, den wir getroffen haben. Das war viel einfacher, als ich befürchtet hatte! Er ist aber kein Bandmitglied. Keiner wird je Graham ersetzen. Wir wissen immer noch nicht recht, was wir mit den alten Liedern anfangen sollen. Das ist für mich momentan das Schwierigste am Live-Spielen: die Vergangenheit wiederzubeleben, aber auf neue Weise. Die neuen Lieder sind viel einfacher.“ Er stockt plötzlich und runzelt die Stirn. „Das ist nicht gerade ein so wichtiges Thema wie Weltfrieden, oder?“ Da fällt einem wieder auf, dass Albarn zwar professionell und gar nicht so ungern über sich selbst spricht, es aber im Grunde blödsinnig findet. Trotzdem fahrt er tapfer fort: „Selbst wenn ich jetzt beschlöße, gar nichts mehr machen, wäre ich mit den geplanten Projekten bis 2005 beschäftigt. Ich will es ja so, ich sollte mich nicht beschweren. Aber oft ist es ein verdammter Albtraum.“ In der Mittagspause wird er mit den Gorillaz reden und sich ein paar skurrile Tapes anhören, die ihm aus Island geschickt wurden. Er wird über Videos für Blur nachdenken und davon träumen, bald wieder in Afrika zu verschwinden. Am liebsten hätte Albarn alles auf einmal, aber nacheinander geht auch. „Mir ist die Mischung aus kommerzieller und Underground-Musik wichtig. Es käme mir doch sehr albern vor, nur den ganzen Tag über mich selbst zu reden – wie ein Popstar.“ Und da lugt schon der nächste Journalist hinterm Vorhang hervor, um mit Damon Albarn über Damon Albarn zu reden. Er wird es überleben.

Wir verlosen zum heutigen Release der Blur-Box ein Package mit allen sieben Alben-Einzelboxen und ein paar schicken Blur-Buttons. Wer das Paket haben möchte, der schreibe eine Mail mit dem Stichwort „Blur werden 21“ an verlosung@www.rollingstone. Viel Glück!

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates