Reisebericht: Kissogram in Shanghai

Der exklusive Reisebericht von Kissogram-Sänger Jonas Poppe (Foto). Die Band spielte dort auf der Expo und bei einer Auslandsveranstaltung des Reeperbahn-Festivals.

Zu welcher Zeit wir ankamen, weiß ich nicht mehr. Die lange Reise und die Zeitumstellung hatten meine eigentlich funktionstüchtige innere Uhr aus dem Takt gebracht. Nehmen wir an, es war 16 Uhr 3. Man händigte jedem von uns einen Schlüssel zu einem Zimmer auf einer anderen Etage aus. Mein Zimmer zum Beispiel lag in der 14. Etage. Holiday Inn, Shanghai Vista, Changshou Lu 700. Säuberlich ausgeschnittene junge Männer in chinesischen Anzügen und seriösen Gesichtern versuchten, eine lächelnde Lokomotive durch die gläserne Drehtür in das Foyer zu befördern. Und wir, etwas hilflos in einer Raute aufgestellt, freuten uns auf die folgende Woche.

Wir befanden uns also in China. Vor uns lagen zwei Konzerte. Eines im Rahmen der Expo, auf dem Berlin-Square nahe des deutschen Pavillons und eines auf dem ‚Reeperbahn-Festival‘, langerhand und einmaligerweise nach Shanghai verfrachtet, genauer: ins Mao Livehouse; Maos Haarpracht zierte ganz unironisch das Logo dieses Clubs auf einem Kunst-und Werkstätten-Gelände.

Aber zuerst wollten wir ein wenig von der Stadt sehen, von diesem Monstrum von einer Stadt, mit seinen über 2000 Wolkenkratzern und seinen fast 20 Millionen Einwohnern. Wir ließen also die pausbäckige Lokomotive links liegen und ein Taxi fuhr uns durch den Verkehrsbrei, routiniert hupend Richtung Peoples‘ Square. Hier dividierten wir vier uns durch zwei. Sebastian und ich gingen in ein Imbiss-Restaurant- und uns fiel zum ersten Mal auf, dass man in Shanghai nicht englisch spricht. Aber man sprach trotzdem mit uns, machte uns wahrscheinlich sinnvolle Vorschläge, deutete auf interessante Schriftzeichen und wedelte fröhlich und engagiert mit den Händen. Der eine oder andere Hühnerfuß mit Chili schärfte unsere vom Schlafmangel etwas getrübten Sinne. Und dann los, ziel- und planlos, den Menschen die uns am besten gefielen hinterher, streunend, stehenbleibend, kartenlesend, durch die Straßen, durch den 400-Jahre-alten Yu-Yuan-Garten, mit leicht ausgefahrenen Ellenbogen durch die Menschenmassen, durch die Expo-Touristen, Kamera-Schusslinien ausweichend und selbst an anderer Stelle aus dem Handgelenk knipsend. Ich mit einer imaginären Zigarette im Mundwinkel (hatte leider rechtzeitig mit dem Rauchen aufgehört), trotz knusprigen Chili-Hühnerfüssen immer noch leicht hypnotisiert. Die Stadt quietschte und rauschte laut und schickte sich noch nicht an, mir zu gefallen, aber ich beschloss, ihr Zeit zu geben.

Wir schliefen gut (vermute ich), genehmigten uns Dumplings und europäisches Rührei zum Frühstück am nächsten Tag, überflogen die Zeitung, Köhler war zurückgetreten. Wir teilten uns erneut auf und fuhren auf den Pudong-Teil von Shanghai, dem ökonomischen Viertel mit den größten Wolkenkratzern, zum Beispiel dem Fernsehturm (Oriental Pearl Tower) oder dem World Financial Center, genannt Flaschenöffner; mit 492 Metern der drittgrößte Wolkenkratzer der Welt. Knut (unser Freund, Organisator und Kartenleser) und Sebastian gönnten sich den Ausblick von ebendiesem ökonomischen Phallus-Symbol; der Blick reicht bei schönem Wetter bis an den Rand der Smog-Glocke.

Später flanierten wir auf dem Bund, der Uferpromenade am Huangpu. Gegen Abend sollten wir unser erstes Konzert haben, auf dem bereits erwähnten Reeperbahnfestival. Zusammen mit einer chinesischen und einer deutschen Band, ‚Tian‘ und ‚Revolverheld‘. Hier, im ‚Mao Live-House‘, bemühten wir uns, im schiefen Dreieck aufgestellt, das chinesisch-deutsche Publikum zum Wanken zu bringen. Wir garnierten unseren asymmetrischen Rock’n’Roll mit großen Gesten und ‚Ni hao’s und ‚Xie Xie’s und man bedachte uns mit Aufmerksamkeit, Staunen, Applaus und Schweißperlen. Wir spielten ‚Bucharest‘ als Zugabe und verschwanden im Backstage.

Das chinesische Publikum, wenn ich das überhaupt verallgemeinern kann, reagiert tatsächlich anders als das europäische auf ein Konzert. Es erwartet und braucht Animation, große Bewegungen, es möchte mitgenommen werden, es möchte den Takt mitklatschen; bei alldem ist es sehr wohlwollend und brav, solange man auf der Bühne bleibt und nicht etwa in den Zuschauerraum geht. Denn..

Der Reihe nach. Wir hörten auf zu schwitzen, tranken ein paar Tsing-Tao, gaben einem sympathischen grün-pullovrigen Berliner ein Interview (für Motor-FM, glaube ich mich zu erinnern) und gaben ein paar Autogramme. Mit dem Grünen fuhren wir dann in einen Nudelimbiss, von Uiguren geführt, sagte man uns, und dann ins Shelter, zu Jahcoozi –
ein paar letzte gebrochene Beats und mehr, mehr Tsing Tao.

An den nächsten beiden Tagen versuchten wir, die Eingeweide der Stadt kennenzulernen, die Märkte, die Wohnviertel, die kleinen Läden, die U-Bahnen.. Wir liefen in verschiedenen Konstellationen (-dabei begegneten wir uns wunderlicherweise immer wieder zufällig-) durch die überaus lebendigen Straßen der Altstadt, auf denen sich der Shanghaier Alltag abspielt, auf denen die Hühner geköpft werden, die Menschen frisiert, die Reifen geflickt, die Wan-Tans gegart. Jetzt gefiel mir Shanghai. Hände in den Hosentaschen, mit ein paar Yuan spielend, trotteten wir entspannt umher und ernteten ein Kopfnicken, eine einladende Handbewegung, ein Stück Melone. Auf dem Antik-Markt betrachteten wir Maos aus Ton, aus Metall, auf Plakaten, winkend in Taschenuhren, außerdem Mao-Bibeln und zweifelhafte Porzellan-Reliquien aus der Zeit der Kulturrevolution. Wir zahlten mit den mao-gesichtigen Scheinen und handelten vorher ein bißchen. Wir hatten alle nicht viel Geld aber bemühten uns, nicht unbedingt da zu kaufen, wo man uns vogelartig „Cheap! cheap! cheap!“ entgegenrief.

Zwischendurch 1: trafen wir die beiden Pitchtuner und das Jeans Team, das am Abend in der Dada-Bar auflegte. Berlin mäanderte durch Shanghai.

Zwischendurch 2: aßen wir Dumplings, Nudelsuppen, Schweinefleisch in Bohnensoße; wir probierten die überaus angriffslustige Szechuan-Küche, unbekanntes Fritiertes auf der Straße und Aufgespießtes am Grill.
Das Essen war fantastisch.

Zwischendurch 3: telefonierten wir mit Expo-Leuten und besprachen die Dinge, die unser Konzert am 5. auf dem Berlin-Square betrafen.

Auf dem Expo-Gelände war ich noch nicht gewesen; im Gegensatz zu Joe und Sebastian, die sich bereits am Tag vorher zum Beispiel den ungarischen und den moldawischen Pavillon angesehen hatten. Möglicherweise kamen wir um kurz nach zwölf Uhr mittags an. Wir nahmen uns Zeit für deutsches Essen und für einen Energieball (eine der Attraktionen im deutschen Pavillon), der durch Mitwirkung des Publikums in wütendes Leuchten und Schwingen geraten konnte. Die einzelnen Pavillons haben wir nur von außen und nur zum Teil sehen können. Besonders der Spanische und der Lettische gefielen mir.

Wir waren eine von vier Bands, die im Laufe der Woche auf dem Berlin-Square auftreten sollten. Bereits beim Soundcheck sammelten sich Leute und applaudierten einem Snare-Roll oder einem E-Dur-Akkord. Wir begannen unser Konzert im Dämmerlicht. Joe schnitt ein gut gelauntes englisches Gesicht und wir fingen an, das (sehr grob geschätzt) 2000-köpfige Publikum unter Druck zu setzen. Es war laut und gut, befand ich hinter meinen beiden Monitoren, es rauschte und ächzte, wir spielten unseren synthesizierten, exaltierten Rock’n’Roll, bis wir im Schweiß badeten. Die Publikumswelle schaukelte uns hoch und wir gaben die Woge zurück und entließen das Publikum (und uns) gleichermaßen entfesselt und angespannt. Als ich dann allerdings eine Stunde später, nachdem die Show längst vorbei war und die türkisch-deutsche Ipek bereits Platten auflegte, vor das Publikum trat, um die letzten Promo-Cds loszuwerden, brach ein kleines Chaos aus. Die CDs waren sofort entrissen, ich flüchtete auf die Bühne und eine Stimme aus dem Hintergrund sagte zu mir, solche Aktionen eskalieren in China manchmal und seien mitunter gefährlich. Erstaunlicherweise habe ich aber keine Sicherheitskräfte vor oder neben der Bühne bemerkt.

Shanghai ist aufregend, dachte ich mir. Es war unsere zweite Reise nach Asien, nachdem wir letztes Jahr in Tokyo gespielt hatten, und es war nicht minder interessant, auch wenn es die Subkultur, die man sich erhofft, das kleine Off-Kino, eine Szene wie wir sie kennen, kaum gibt. Aber es bewegt sich was, sagen manche Sinologen.

Einige Stunden später befanden wir uns u.a. mit Ipek in einem Club mit dem wenig versprechenden Titel ‚Chinatown‘, der sich als dekadente Insel für reiche amerikanische Business-Men und unbekannte Prominente entpuppte, in der halbnackte Frauen und Martini-schlürfende, Geldnoten werfende Nadelstreiflinge… ich habe eigentlich keine Lust, davon zu schreiben.

Dass die Lokomotive nicht mehr da war, fiel mir erst am nächsten Morgen auf. Dies war unser letzter Morgen in Shanghai. Ich holte mir einen Garnelen-Dumpling aus dem Frühstücksraum. Sebastian kaufte sich mindestens zwei Reis-Dreiecke für die bevorstehende Reise.

Im letzten Satz sitzen wir auf Koffern und warten auf den Fahrer des Wagens, der uns zum Flughafen bringen soll.

Jonas Poppe

Fotos: Kissogram

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