Elena Ferrante :: Meine geniale Freundin

Wer im vergangenen Jahr einen englischen Buchladen betreten hat, wird dort die Romane einer allem Anschein nach italienischen Autorin namens Elena Ferrante in der Auslage gesehen haben. Die Buchcover mit ihren ins Kitschige verfremdeten Fotografi en von Mädchen und Frauen, die dem Betrachter den Rücken zuwenden, gaben die Ahnung, es handle sich hier um sogenannte Frauenliteratur. Die Kritiker in England und den USA allerdings – männlich wie weiblich – überschlugen sich mit Lob für Ferrantes neapolitanische Saga, die aus insgesamt vier Romanen besteht. Der Name Elena Ferrante, erfuhr man, ist das Pseudonym einer Autorin oder eines Autorenkollektivs, also wieder mal eine „große Unbekannte“ der Literatur.

Den ersten Teil der englischen Übersetzung, „My Brilliant Friend“, sah ich im Sommer vergangenen Jahres zuerst im Reisegepäck des australischen Songwriters Robert Forster, der mir in den folgenden Monaten von seinen Leseerfahrungen berichtete, ja sogar die Buchläden aufzählte, in denen er die einzelnen Bände der Tetralogie erworben hatte – so als wären sie durch den Kaufakt zu heiligen Orten geworden. Eine deutsche Übersetzung der sagenhaften Saga lag noch nicht vor, und so blieb dem interessierten Leser, der mit Nick Lowe von sich sagen muss: „Me no speak-o Italiano“, nur der Griff zur englischen Ausgabe. Nach den insgesamt gut 1.800 Seiten war klar: Diese Geschichte einer Freundschaft zwischen der kapriziösen Raffaella „Lina“ Cerullo und der strebsamen Elena „Lenù“ Greco gehört nicht nur ins Schaufenster des feministischen Buchladens, den Forster einst im Go-Betweens-Song „The Clarke Sisters“ beschrieb, sondern in die Hände jedes Lesers, der intelligente, anrührende, einnehmende Literatur liebt.

Der erste Band, der nun unter dem Titel „Meine geniale Freundin“ endlich in der deutschen Übersetzung von Karin Krieger vorliegt, beginnt mit einem Verschwinden. Rino, Raffaellas Sohn, berichtet Elena am Telefon, seine 66-jährige Mutter sei wie vom Erdboden verschluckt, habe jede Spur ihrer Existenz gelöscht, ihren Kleiderschrank ausgeräumt; alle Papiere, auf denen ihr Name stand, und sogar die Geburtsurkunde seien nicht mehr auffindbar – selbst aus den Familienfotos habe sie sich herausgeschnitten. Elena, eine erfolgreiche Schriftstellerin, die Raffaelas Launen besser kennt als jeder andere, begreift dieses Verschwinden, wie jede Handlung ihres Lebensmenschen, als Herausforderung. „Mal sehen, wer diesmal das letzte Wort behält, sagte ich mir. Ich schaltete den Computer ein und begann unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist.“

Ihre Erinnerungen beginnen in den späten 40er-Jahren auf einer dunklen Treppe vor dem Haus des geheimnisvollen Don Achille, der den beiden Mädchen in den grausamen Geschichten, die man sich in diesem Armenviertel von Neapel über ihn erzählt, wie ein Unhold aus einem Märchen erscheint. Lina hat die Puppe ihrer Freundin durch ein Gitter in den Keller des Hauses geworfen, Lenù reagiert, indem sie Linas Puppe ebenfalls versenkt. Sie nähern sich mit schlotternden Knien, um ihre leblosen Gefährtinnen aus den Fängen des gewalttätigen Mannes zu befreien, und schon hier erkennt man das Temperament der beiden: der furchtlosen, oft geradezu dreisten Lina und der braven, folgsamen und loyalen Lenù.

Das Leben in ihrem Viertel ist geprägt von Gewalt, die Währung hier ist Blut. Menschen verlieren ganz plötzlich ihr gesamtes Hab und Gut oder gar ihr Leben. Erst als die beiden Freundinnen älter werden, sich ihr Horizont erweitert, ohne jedoch über die Grenzen ihrer Nachbarschaft hinauszugehen, werden die Machtbeziehungen in diesem Mikrokosmos allmählich klarer. Der Tischler Peluso verlor seine Werkstatt an Don Achille, der der örtliche Boss der Camorra war, und soll ihn daraufhin umgebracht haben.

Die Kinder der verfeindeten Familien gehen gemeinsam zur Schule. Lina, Tochter eines Schusters, erweist sich als genialer Kopf mit geradezu übernatürlichen Kräften, durchschaut und kontrolliert bald all die Spielchen, die in ihrer Umgebung gespielt werden. Lenù findet sich schnell damit ab, in der Schule hinter ihrer Freundin nur die Zweitbeste zu sein. Trotzdem ist sie es, die mit ihrem passiv-aggressiven Wesen den Widerstand ihrer Eltern mithilfe einer Lehrerin brechen kann, um zur Mittelschule und gar aufs Gymnasium zu gehen. Während sie zu einer attraktiven jungen Frau heranreift, scheint Lina die Metamorphosen der Pubertät – wie sie ihre Freundinnen glauben lässt – allein durch ihre Willenskraft auszusetzen. Sie muss nach der Grundschule im elterlichen Haushalt helfen, verschlingt Bücher aus der örtlichen Bücherei. Als sie spürt, wie der Nachkriegswohlstand im Viertel erste Blüten trägt, tauscht sie ihr Streben nach Bildung gegen das Streben nach Reichtum und Macht, spielt mit ihrer Durchtriebenheit und Originalität Bruder und Vater und mit ihrer nun doch erblühenden Weiblichkeit die Söhne der führenden Camorra- Familien gegeneinander aus.

So weit sich Lina und Lenù in ihrer Entwicklung voneinander entfernen, die eine auf dem Weg ins Herz des Viertels, die andere in die Welt des Geistes und der Literatur, bleiben sie doch füreinander die wichtigsten Bezugspunkte, richten ihr Leben aneinander aus. Dazwischen spannt sich die lebenspralle virtuose Erzählung zweier Leben, eines Viertels, eines Landes und einer Epoche. Mit der neapolitanischen Saga wird den großen Bromances der Literatur, von Hamlet und Horatio bis Dean Moriarty und Sal Paradise, endlich ein ebenbürtiges Zeugnis einer weiblichen Freundschaft entgegengesetzt. (Suhrkamp, 22 Euro)

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