„In Utero“ von Nirvana: Alles schmerzt

Geffen/Universal

Es bleibt die Meisterleistung von Nirvana, dass ihre Plattenfirma „In Utero“ mit diesem Klang überhaupt veröffentlichte.

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Folgende Eindrücke brachte Nirvana-Sänger Kurt Cobain 1992 mit ins Studio: Er war vom Süskind-Buch „Das Parfüm“, das von einem Zwangsneurotiker handelt, schwer eingenommen; er hatte das Schauspieler-Biopic „Frances“ gesehen, über die vermeintlich psychisch kranke Schauspielerin Frances Farmer, wie Cobain ein Kind Seattles; und er schrieb einen balladenartigen Song, in dem er die Vagina seiner Freundin als Falle mit Sicherheitsschloss bezeichnete. Außerdem wollte er eine Platte aufnehmen, um sie „I Hate Myself And Want To Die“ zu nennen. Genug Stoff also, um es sich so richtig schlecht gehen zu lassen.

Die Bedingungen konnten daher nicht schlechter sein. „Teenage Angst Has Paid Off Well, Now I’m Bored And Old“, lautete Cobains erste Songzeile des später doch noch „In Utero“ betitelten Albums, dem Nachfolger zum Millionenseller „Nevermind“ (1991). Von „Teenage Angst“ handelte ihr erster Hit „Smells Like Teen Spirit“, dessen Erfolg den heroinabhängigen Sänger zweitweise derart verunsicherte, dass er alles hinschmeißen wollte. Nun schien Cobain bei den neuen Aufnahmen aber mit „Langeweile“ und „Alterung“ auf Erwartungen zu reagieren. Niemand jedoch konnte Cobains Selbstmord im April 1994 voraussehen.

Vom Leiden ins Schreiende

Mit Steve Albini als Produzent wollte Kurt Cobain nicht nur seinen Vorbildern, den Pixies, nacheifern. Es ging ihm möglicherweise auch um sein Gewissen. Die jungen Nirvana waren erfolgreicher als alle angestammteren Indierock-Bands der Achtziger zusammen, Pixies, Dinosaur J., Mudhoney, Sonic Youth.  Cobain wollte Öffentlichkeit schaffen für das von Albini eingerichtete, von Käufern unbeachtete Pixies-Werk „Surfer Rosa“ (1988), indem er ihn denselben Sound reproduzieren ließ.

Das ist ihm gelungen: Es gibt wenige Alben zweier Bands, die so ähnlich einander klingen wie „Surfer Rosa“ und „In Utero“. Albini, der wenig Wert auf Gesang, dafür umso mehr auf die Wirkung eines schmerzhaft klingenden Schlagzeugs legt, hat in Liedern wie „Scentless Apprentice“ – das die Geschichte des „Parfüm“-Mörder erzählt – ganze Arbeit geleistet: Es ist das härteste Nirvana-Stück geworden, Cobains Stimme wechselt in einer Tour vom Leiden ins Schreiende, während Dave Grohl an den Drums mit unfassbarer Lautstärke jedes Häarchen im Innenohr des Hörers neu sortiert.

Hätte Cobain gewusst, dass Fans das nach rohen Sessions klingende „In Utero“ gegenüber dem Grungepop von „Nevermind“ bevorzugen würden, hätte er den Verzerrer bei den Aufnahmen wohl noch mehr aufgedreht. Sein Ziel war Anerkennung nur noch von den richtigen Leuten, nicht mehr vom MTV-Publikum. „In Utero“ erhielt seinerzeit fast positive Kritiken – verkaufte sich jedoch wie der Vorgänger millionenfach, was Cobain überrascht haben dürfte. Die einstigen Konkurrenten Pearl Jam klangen mit dem fast zeitgleich veröffentlichten „Vs.“ dagegen immer noch wie Classic Rock. So bleibt es Cobains, Grohls und Bassist Krist Novoselics Meisterleistung, dass ihre Plattenfirma das Album mit diesem Klang überhaupt veröffentlichte.

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Brückenlied ins Nichts

Wenn überhaupt war es das Songmaterial selbst, das nicht mehr ganz so gut war wie die Lieder auf „Nevermind“. Mit „Frances Farmer Has Her Revenge On Seattle“, „Very Ape“ und vor allem „Rape Me“ befanden sich auf einem Nirvana-Studioalbum erstmals auch Filler. Während man sich darüber streiten kann, ob Cobains hörbarer Husten in „Serve The Servants“ nur eine Koketterie mit dem Nicht-Perfekten war, darf man sich über die Selbstparodie von „Rape Me“ durchaus ärgern. Das Gitarren-Riff ist eine beabsichtigte „Smells Like Teen Spirit“-Abwandlung à la Wir-scheißen-auf-unseren-größten-Hit, der Text wirkt hilflos, die Opferrolle darin unangenehm hilflos. Doch zum Glück gibt es auf der Platte noch „Scentless Apprentice“, „ Tourette’s“ sowie „Radio Friendly Unit Shifter“, das einen – trotz der mal wieder albern-sarkastischen Betitelung – mit seinen Feedbackschleifen stundenlang wachhalten könnte.

Kurt Cobain soll aus dem Häuschen gewesen sein, als er das ein Jahr zuvor veröffentlichte R.E.M.-Album „Automatic For The People“ zum ersten Mal gehört hatte. Für das vierte Studioalbum von Nirvana habe er sich deshalb mehr Akustikgitarren gewünscht. Das diesem Ansatz folgende „In Utero“-Schlusslied „All Apologies“ wird leider ihr Brückenlied bleiben, ein Brückenlied ins Nichts.

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Die 20th Anniversay Edition (Doppel-CD) enthält das Album als Remaster (man kann ja versuchen so zu tun, als höre man den Unterschied zum Original), sowie diverse Extra-Songs, die es nicht auf das Album 1993 geschafft hatten. Zum Beispiel „Sappy“ (das als Hidden Track „Verse Chorus Verse“ auf dem „No Alternative“-Sampler erschien), „I Hate Myself And Want To Die“ und die recht nutzlosen, als neue Songs beworbenen Instrumentals „Forgotten Tune“ und „Jam“. Die Edition enthält auch neue Mixe („Original Steve Albini 1993 Mix“ sowie die Platte im „Original Album: 2013 Mix“), in denen der Klang vor allem von der offensiver herausgestellten Lead-Gitarre profitiert. Dafür ist der Sound jetzt weniger dreckig – schade drum.

Die 100 besten Musiker aller Zeiten: Nirvana – Essay von Vernon Reid

Bei mir waren Nirvana eine klassische Plattenladen-Entdeckung. So was passiert einem ja immer seltener. Ich war im Rocks In Your Head in New York und fragte die Frau hinter dem Tresen: „Was gibt’s denn Neues?“

Sie legte „Smells Like Teen Spirit“ auf. Ich dachte: „Wow. Da hat’s jemand geschafft, Metallica und R.E.M. zu kombinieren.“ Der Begriff „Grunge“ war mir fremd, und ich wusste nicht, dass das ein Phänomen werden würde. Ich wusste nur, dass ich was Wichtiges hörte. Richtig große Musik.

Mein Lieblingslied auf „Nevermind“ war „Lithium“. Kurt Cobain sprach etwas in der Kultur an, was noch keiner vor ihm so ausgedrückt hatte: leidenschaftliche Ambivalenz. „I’m so ugly, but that’s okay/ ’Cause so are you.“ Er brachte auf den Punkt, welche extremen Gefühle es auslösen konnte, keine Gefühle zu haben.

Nirvana – „Lithium“:

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Cobain lenkte die Musik auf ganz neue Wege. Menschen, bei denen man zusehen kann, wie die Achse der Musikgeschichte sich um sie dreht, gibt es nur sehr selten. Hendrix war maßgeblich, Prince war maßgeblich, Cobain auch.

Sein Spiel durch den Big-Muff-Verzerrer, das kannst du nicht abziehen

Obendrein war er ein hervorragender Gitarrist. Ich hab das mal zu einem Joe-Satriani-Fan gesagt, und den machte das richtig wütend. Aber man kann Cobain nicht gleichzeitig für einen großen Songwriter und einen nur durchschnittlichen Gitarristen halten – weil er ohne die Gitarre diese Songs nicht geschrieben hätte. Sein Spiel durch den Big-Muff-Verzerrer, das kannst du nicht abziehen, das war essenziell für seine Musik, und seine geänderten Tunings waren unglaublich einflussreich.

Denke ich an Nirvana, dann denke ich auch an die Bad Brains, die Sex Pistols. Alle diese Bands waren radikal und eigenwillig und abseitig, aber ihre Songs sind unglaublich melodisch.

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Wenn’s um einen Smaragd oder einen Diamanten geht, da kann man von Reinheit reden. Aber bei Menschen – das haut nicht hin

Auf „Mistaken Identity“, meinem ersten Soloalbum nach der Auflösung von Living Colour, gibt es ein Stück, das heißt „Saint Cobain“. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich von seinem Selbstmord erfuhr. Ein so immenser Erfolg, wie ihn Nirvana erlebten, wirkt traumatisch.

Und noch etwas ist ihm passiert, was in meinen Augen eine Schande war: Wegen des Erfolgs von Nirvana musste er sich immer gegen den Vorwurf verteidigen, er hätte sich verkauft, und diesen Anschein von makelloser Reinheit wieder herstellen. Wenn’s um einen Smaragd oder einen Diamanten geht, da kann man von Reinheit reden. Aber bei Menschen – das haut nicht hin. Das ist gefährlich.

Denkt doch mal: künstlerische Reinheit. Rassische Reinheit. Obwohl ich glaube, dass Cobain auf gewisse Art und Weise tatsächlich perfekt war: Er war perfekt fehlerhaft.

Michel Linssen Redferns