Tony Joe White – Swamp Music – The Complete Monument Recordings
Erinnert sich noch jemand an Don Nix? Der war mal eines dieser ganz großen Songschreiber-Talente aus dem Dunstkreis der Muscle Shoals Studios in Alabama, ein Blues- und Soul-Mann, der Elegien schrieb wie „The Train Don’t Stop Here No More“, die das Zeug zum Klassiker hatten. Aber egal, was er nach seinem Debüt (ein Weißer auf dem Stax-Label) für andere Plattenfirmen aufnahm: Er blieb der sprichwörtliche ewige Geheimtipp.
Da hatte der auch aus dem Süden kommende Kollege Tony Joe White viel mehr Glück. Wie J. J. Cale ein unverwechselbarer Stilist, dessen „Formel“ auch zu beträchtlichem Teil durch Produzent Billy Swan und fabelhafte Session-Cracks (David Briggs, Norbert Putnam & Co.) definiert wurde, hatte er auch ein Gespür für Ohrwurmqualitäten. Die erste von dem halben Dutzend Originalkompositionen auf der A-Seite der Debüt-LP -„Willie And Laura Mae Jones“ – erinnerte nicht nur ungefähr, sondern beträchtlich an die ein Jahr vorher so erfolgreiche „Ode To Billy Joe“ einer Kollegin. „Aspen Colorado“ war einer seiner frühesten autobiografischen Songs, und die Geschichte von „Polk Salad Annie“ wurde Teil der Louisiana-Folklore und Blaupause für das, was man dann Swamp Rock nannte. Er hatte vorher schon etliche andere Songs geschrieben und aufgenommen, alles Mögliche von Blues-Klassikern („Baby Please Don’t Go“) über das offenbar von frühem Johnny-Rivers-Vorbild inspirierte „Let The Party Roll On“ (pseudo-live auch diese Joe-South-Komposition) bis zu dem von Produzent Ray Stevens auf Good-time-Pop getrimmten „Ten More Miles To Louisiana“ für eine Single von 1966. Also muss das einem gewieften Kalkül entsprungen sein, dass er für die B-Seite der Debüt-LP Cover-Versionen von Slim Harpo und Johnnie Taylor, O. C. Smith, Jimmy Webb und Bacharach/David auswählte.
Als Crooner machte er mit „Little Green Apples“, „Look Of Love“ und „Wichita Lineman“ noch keine so gute Figur, aber mit dieser Stimme überzeugte der etwas pausbäckige Südstaatler auf Anhieb Discjockeys in Frankreich und anderen europäischen Ländern mehr als daheim. So zu viel Selbstvertrauen gekommen, nahm er für „…Continued“ nur noch Eigenkompositionen auf. Wobei „Roosevelt And Ira Lee (Night Of The Moccacin)“ genau genommen „Son Of Willie And Laura Mae Jones“ war und Erinnerungen an „Polk Salad Annie“ bewusst evozierte. Aber erstklassige neue („I Want You“, „I Thought I Knew You Well“) waren ihm auch zugeflogen, als Crooner überzeugte er jetzt mit „For Le Ann“ und nicht minder beim Hit „Rainy Night In Georgia“. Keiner für ihn, aber ein sehr großer für Brook Benton, der den gern übernahm. Genau genommen verhielt sich das ja auch entschieden umgekehrt: 1968 eine total erfolglose Single, hatte er „Old Man Willie“ umgeschrieben in „Folk Salad Annie“, kam damit in die Top Ten – und konnte sehr gut damit leben, dass sich Elvis bald dieses Lied für immer aneignete.
Für „Funky Fingers“ klaute er das Intro von „Satisfaction“, „Soul Britches“ war unüberhörbar „inspiriert“ von Slim Harpo und „Dusty Marshmallow“ natürlich von Jimi Hendrix (genauer gesagt: dessen Fassung von „All Along The Watchtower“), alles unveröffentlichtes Material und erstmals hier zu hören wie sieben andere Zugaben auch auf der zweiten CD.
Für Bobbie Gentry hatte er schon länger ein spezielles Faible entwickelt, einmal mehr zuhören bei seiner Ode an den „High Sheriff Of Calhoun Parrish“ auf dem dritten Album, „Tony Joe“. Diesmal gab’s auf der B-Seite wieder Cover-Versionen (Johnny Bristol, Otis Redding und John Lee Hookers „Boom Boom“, richtig schön schmuddelig verzerrt gespielt). Nicht übel war auch der eigene „Stockholm Blues“, aber die von Donnie Fritts und Dewey Oldham geschriebene Ballade „My Friend“ trug entschieden dazu bei, dass dies unterm Strich die ergiebigste und beste unter den frühen Songkollektionen von TJW wurde.
In Frankreich schon früh ein Idol, nahm er 1969 in den Barclay Studios in Paris solo und unplugged zehn Songs auf, die hier erstmals auf der vierten CD auftauchen. Darunter auch „Mississippi Delta“ von Bobbie Gentry und Bob Dylans „The Ballad Of Hollis Brown“, definitiv nicht als Swamp Rock interpretiert. Kalkül war sicher auch, dass er seinen Auftritt auf der Isle Of Wight beim Festival im August 1970 mit dem John-Lee-Hooker-Klassiker begann. Den Drummer Cozy Powell konnte er sich von Jeff Beck ausleihen, wie er stolz sagt. Der vermutlich vorher nur in Europa veröffentlichte Live-Mitschnitt gibt hier sein Debüt auf CD.