Tocotronic – „Wir Kommen Um Uns Zu Beschweren“

"Ich weiß nicht, wie konnte das geschehen/ Die Welt kann mich nicht mehr verstehen": Wir hatten uns daran gewöhnt, dass junge Menschen dieses Gefühl mit "Gregor Samsa" beschreiben, weil sie in der Schule Kafka lesen mussten. Dirk von Lowtzow macht ein anderes Angebot - eines, das meine Oma überzeugen würde: Vielleicht liegt es einfach an der Zeitumstellung.

Tocotronic wollten Teil einer Jugendbewegung sein, aber weil in Hamburg junge Greise den Ton angaben, gründeten sie die Jugendbewegung gleich selbst. Auf „Digital ist besser“ nörgelten sie allerliebst herum, es ging gegen Samstagnachmittage und Gitarrenhändler, alles war korrekt und ganz alte Bundesrepublik. Sie waren jung, sie waren querulant, sie waren wütend. Dann sollten sie einen Preis vom Verblödungskanal „Viva“ bekommen, der hieß „Jung, erfolgreich und auf dem Weg nach oben“ oder so, und auf der Bühne eines desolaten Kölner Fabrikgeländes lehnten sie die Auszeichnung linkisch ab. Warum waren sie bloß gekommen?

„Wir kommen um uns zu bechweren“ hätte jeden Preis verdient, es ist die beste deutsche Punkrock-Platte seit den frühen Ton Steine Scherben und „Monarchie und Alltag“ (und eigentlich gibt es nur diese deutschen Punkrock-Platten). Dass sich manche Menschen am Telefon sehr unfreundlich melden, war Tocotronic Grund genug für einen Wutausbruch Bernhardschen Ausmaßes. Es war eine Empörung, ein Kahlschlag, ein Donnergrollen. Zu Lowtzows Genöle türmten sie Gitarren übereinander wie sonst nur Crazy Horse auf „Live Rust“ und „Weld“, der spillerige Arne Zank wurde zu Ralph Molina, der verhuschte Jan Müller zu Billy Talbot, und Lowtzow selbst übertraf in dem nicht enden wollenden Fade-out des zunächst harmlosen „So jung kommen wir nicht mehr zusammen“ den Meister selbst an Rückkopplungs Inferno. Die Platte ist zugleich die Antwort auf „Nevermind“, fünf Jahre später, und ein Echo auf die großen Hassplatten von Hüsker Dü. Dass Arne Zank am Ende „Ich mache meinen Frieden mit euch“ singt, ist natürlich eine Finte: „Hallo Arschloch, hallo Vollidiot!“ Denn der Sänger triumphiert doch vorher schon trotzig: „Ich werde mich nie verändern, ich werde immer derselbe sein.“

Unzufriedenheit dieser Größenordnung geht in kleinen, bösen Liedern wie „Der Cousin“ und „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“, aber sie geht noch viel besser im Epischen. So kulminiert das Monstrum in dem elektrischen Mahlstrom von „Ich bin ganz sicher schon einmal hier gewesen“ und dem erschütternden „Ich möchte irgend etwas für dich sein“.

Tocotronic kleideten sich in Trainingsjacken aus der Altkleiderersammlung und trugen alte Sporttaschen von Adidas, die bald jeder Angestellte und Praktikant von L’age D’or und Motor Music spazieren führte. Das war die falsche Bewegung. Tocotronic waren schon wieder weg.

L’age D’or/Motor Music, 1996

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