Transaktionsterroristen

Wie man mit einem Telefon, oraler Inkontinenz und nackter Haut Millionengewinne machen kann, zeigt jeden Tag der "Fernseh'-Sender 9 Live

Was macht man bloß mit Menschen, die pausenlos reden? Nicht nur ein paar Minuten, sondern stundenlang. Zwischendrin rufen sie immer mal wieder: „Ich werde wahnsinnig.“ Oder sie deklamieren verwundert: „Das kann doch nicht wahr sein.“ Gleichzeitig schauen sie drein, als habe man ihnen gerade das zentrale Teil ihres 5000-Teile-Puzzles weggenommen. Was macht man mit solchen Menschen, die ihr Leben als brabbelndes Fragezeichen verbringen? Richtig, man weist sie ein. Gute Ärzte wissen nämlich die genannten Symptome zu deuten wissen, wo all die geschilderten Defizite noch gewinnbringend verwertet werden können.

Das zugehörige Sanatorium heißt „Neun Live“ und nennt sich beschönigend „Transaktionsfemsehen“. Es gibt auch noch ein paar Filialen und ein paar andere Zufluchtsstätten ähnlichen Zuschnitts, aber die zentrale Station für die Unterbringung wortdurchfälliger Jungspunde bleibt nun mal Neun Live, jener Sender, der dem deutschen Medienbusiness ein neues Geschäftsmodell verpaßt hat. Nicht mehr die Reklame finanziert den Gewinn der Eigner, sondern die Zuschauer sorgen mit kostenpflichtigen Anrufen dafür, daß es in der Kasse klingelt.

Offiziell gelten Sender wie „Neun Live“ als Fernsehen, wobei sich allerdings jedem halbwegs mit einem Intelligenzquotienten über Raumtemperatur geschlagenen Individuum eher der Ruf nach der Genfer Konvention aufdrängt. Die regelt unter anderem, daß man im Krieg Gefangene ordentlich zu behandeln hat, enthält allerdings keine Passage zu „Neun Live“ und den von diesem Phänomen Befallenen.

Schließlich sind es nicht nur die Gestalten, die da im Studio um ihr Leben zu reden scheinen; es geht vor allem um die Menschen vor dem Bildschirm, deren Leben offenbar nichts Besseres zu bieten hat als ein Programm wie „Neun Live“.

Man stelle sich das mal vor: 37 und mehr Programme im Angebot, und es gibt für manche offenbar nichts Annehmbareres als „Neun Live“. Da drängt sich die Frage auf, wie trostlos ein Leben aussehen muß, das Zeit läßt, sich mit den dusseligen Fragen der Verhaltensauffälligen im Studio zu befassen und sich auch noch die Finger wund zu wählen beim Versuch, eine Antwort los zu werden, obwohl doch alle deutlich darauf hingewiesen werden, daß jeder Versuch, auch der vergebliche, mit einer Gebühr von 0,49 Euro bestraft wird.

„Bist du allein zu Hause“, fragt der Moderator oft, und die meisten sagen ja. Sender wie „Neun Live“ setzen klar auf die vereinsamten Singles, denen nichts sonst bleibt als ihre Fernbedienung, deren Leben mit dem Druck des Aus-Knopfes zwangsläufig in die Tristesse abrutscht, die sich dementsprechend einem perfide konstruierten System aus massiver Verlockung und suggerierter Möglichkeit ausliefern.

Je leichter nämlich die gestellte Aufgabe zu lösen ist, desto schwerer kommt man durch. Je schwerer die Aufgabe, desto leichter kommt man durch, scheitert allerdings regelmäßig an der Lösung. Gerne werden dabei auch die Regeln so schwammig gestaltet, daß nicht auf Anhieb ganz deutlich wird, wie nun zu einer richtigen Antwort zu gelangen ist. Wichtig ist eh nur, daß genügend Menschen anrufen, daß also genügend Geld zusammenkommt, um die billige Studiodeko, den technischen Aufwand, den sabbelnden Ansager und den satten Gewinn der Eigner finanzieren zu können. Erst wenn diese Etatposten befriedigend abgehakt sind, ist an die Auszahlung eines vergleichsweise lächerlichen Gewinns zu denken. Der große Gewinn bleibt bei „Neun Live“, wo regelmäßig Überschüsse im zweistelligen Millionenbereich vermeldet werden. Für eine Mini-Anstalt solch simplen Zuschnitts schon ein durchaus erklecklicher Wert, der angesichts der 0,49 Euro (die sich Neun Live allerdings mit einem Provider teilen muß) die Erkenntnis nährt, daß es viele Millionen Menschen sein müssen, die sich das alles antun, die solches Geschehen reizvoller finden als die Beschäftigung mit sich selbst oder gar mit Mitmenschen.

Allerdings scheint sich das alles offenbar noch finanziell aufwerten zu lassen, wenn man zu nächtlicher Stunden jede Menge Mädchen präsentiert, die ihren größtenteils entblößten Körper abtasten und so eine Art televisionäre Krebsvorsorge praktizieren. Das ist zwar für Menschen unter 18 Jahren nicht geeignet, hat aber den ungeheuren Vorteil, daß während der pseudosexuellen Bildschirmräkelei ein paar Stunden lang keiner der quäkigen Moderatoren stört. Dann ist „Neun Live“ einfach nur ein stinknormaler Sexsender, was die Verantwortlichen natürlich niemals zugeben werden, weil sie das Geschäft mit der nackten Haut euphemistisch als Erotik kategorisieren.

Irgendwann sind sie dann aber wieder da, die Gestalten, die laut beklagen, daß sie nun aber bald wahnsinnig werden und daß das alles doch gar nicht wahr sein kann, daß die Kohle dringend raus muß. Sie flehen gar, man möge sie dringend von der monetären Last befreien. Und wieder finden sie Menschen, die anrufen.

Möglicherweise sagt der Erfolg von „Neun Live“-Sender-Modellen mehr über den Zustand der Republik aus als alle Hartz-IV-Statistiken zusammen. Deutschland, Land der dümmlichen Anrufer, die sich letztlich auch den bösesten aller Vorwürfe gefallen lassen müssen: Du bist „Neun Live“.

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