Unfrieds Urteil: Traut euch den Verein zu wechseln

"Mit seinem Fußballclub wird man geboren – und man hat gefälligst mit ihm zu sterben": Das ist der größte Unsinn aller Zeiten. Mein Motto lautet: Einmal VfB, nicht mehr VfB!

Die Spieler des VfB Stuttgart tapperten müde über den Rasen, in der Kurve heulten sie ihr hilfloses „Vorstand raus“ und dazu ein seltsam-zeitversetztes „Wir woll’n euch kämpfen sehen“. Als wäre das Spiel nicht längst abgepfiffen und der Abstieg aus der Fußball-Bundesliga nicht offiziell.

Pfingstsamstag, 17.20 Uhr. Ich sah zu und pfiff „Ich mach‘ mein Ding“ von Udo vor mich hin.
Da stupste mich ein Kollege auf der Pressetribüne an und sagte vorsichtig:
„Du kommst doch aus Stuttgart oder so.“
Ich komme nicht aus Stuttgart, aber aus „oder so“, richtig. Stimpfach, um genau zu sein.
Aber das ist für Fischköpfe zu kompliziert.
„Stimmt“, sagte ich.
Wie es mir gehe. Ich sei doch sicher emotional involviert in diesen Abstieg.
„Überhaupt nicht“.
„Ich dachte, du bist bestimmt VfB-Fan.“
„Ich war VfB-Fan“, sagte ich, „aber das ist lange her. Wir haben uns am 21. Mai 1998 getrennt.“
Kurze Pause. Er war verwirrt. „Geht das denn?“
„Es war eine saubere Trennung. Keine Gefühle zurückgeblieben.“

Vom Fußballclub trennt man sich nicht?

Er sah mich mit einem Blick an, den ich schon kenne. Als sei ich ein Alien. Oder ein Monster. Jedenfalls kein normaler Mensch.
Und, sehen Sie: Das ist etwas, das ich überhaupt nicht verstehe. Man kann seine Frauen verlassen, seine Männer, seine Familie, man kann seine Eltern verstoßen, man kann viermal, fünfmal heiraten, kein Problem. Kinder? Tja, Kollateralschäden.
Man muss nur sagen: Die schraubt die Zahnpastatube nie zu oder sie schraubt sie immer zu, schon nicken alle verständnisvoll. Tja, was will man machen?
Aber von seinem Fußballclub trennt man sich nicht. Unmöglich.
Der Schriftsteller Nick Hornby wurde mit einem Buch über seine Liebe zu Arsenal berühmt („Fever Pitch“). Darin schreibt er: „Du suchst Dir nicht Deinen Verein aus, sondern Dein Verein sucht sich Dich aus.“ Das ist seither das Erste Gebot der Fußball-Gläubigen. „Du kannst dich von einer Frau oder einem Mann trennen, aber nicht von einem Verein“, formulierte der Bochumer Schriftsteller Frank Goosen, Aufsichtsratsmitglied des (na?) VfL Bochum. Man sieht: So was behaupten selbst intelligente Menschen und darüber kann man auch nicht mit ihnen debattieren. Mit seinem Fußballclub wird man geboren und man hat gefälligst mit ihm zu sterben. Basta.
Ähnlich reden ja manche alte SPD-Männer, wenn sie von ihrer Partei sprechen. Die in Wahrheit überhaupt nicht mehr ihre Partei ist. Trotzdem können sie sich nicht vorstellen, Schluss zu machen.
Es käme ihnen wie Verrat an sich selbst vor und ihrem Leben. Sie bleiben also in der Partei ihrer Vergangenheit und leiden an der Partei der Realität.
Die – Gottseidank – postideologische und säkularisierte Gesellschaft ist am Ende des Industriezeitalters einige zerstörerische Kollektivklammern los geworden, aber manches hat sie auch an die Turbo-Individualisierung verloren, was zu sozialer und emotionaler Isolierung führt. Eine Folge ist ein zunehmendes Bedürfnis für den Fußballclub als soziale, emotionale und religiöse Gemeinschaft, in der man sich als Teil einer Gruppe spüren kann. Dazu gehört gerade bei „Traditionsclubs“ auch die diskriminierende Abgrenzung zu anderen Gruppen, die man als minderwertig betrachtet, um sich selbst besser zu fühlen. So gelten Mitmenschen als schlechtere Fans, die sich sogenannten „Plastikclubs“ verbunden fühlen. Dahinter steht – das ist alles gar nicht lustig – die Angst vor Absturz und Marginalisierung.

Muss man heutzutage seinem Club treu bleiben?

Aber auch die Anhängerschaft eines bestimmten Clubs ist sehr heterogen. Für manche ist Fußball wie Kino. Oder Konsum von Boulevardstories. Oder Kunst. Oder Zoo. Für andere ist es tatsächlich die wichtigste identitäre und soziale Entscheidung ihres Lebens. Sie stehen in der Kurve, sie reisen zu jedem Auswärtsspiel, sogar nach Wolfsburg. Sie leben „für“ den Club.
Was ich nicht kritisiere, das müssen sie selbst wissen.
Für andere ist es nicht existentiell, drückt aber ihr Bedürfnis nach Verwurzelung aus, nach Heimat, auch in der mobilen Mittelschicht. Man wechselt die Stadt, man wechselt den Job, man wechselt die Frau, aber seinen HSV oder FCK oder SC, den nimmt man immer mit. Das Trikot ihres Clubs ist für sie das, was dem Landvolk früher das Dirndl oder der Janker war. Ich kenne einen an sich intelligenten Nürnberg-Fan, der mit diesem Fantum den ganzen Disruptionen der Gegenwart trotzt. Was auch immer sich ändert: „Der Club ist ein Depp“ – das glücklich-masochistische Motto der Clubberer – gilt immer. Wenn nicht jetzt in der Relegation, dann spätestens wieder morgen. So etwas gibt Halt und mit dieser Sicherheit scheint seltsamerweise die Zukunft beherrschbar.
Aber die Fußball-Konservativen haben eine entscheidende Sachen verpasst. Wir leben spätestens seit der Französischen Revolution nicht mehr im Zeitalter des Schicksals. Kein Sohn eines Totengräbers muss Totengräber werden. Keine Bauerntochter muss Magd werden. Kein Fan des VfL Bochum, HSV oder 1. FC Nürnberg muss Fan des VfL Bochum, HSV oder 1. FC Nürnberg bleiben. Wie der Publizist Simon Kuper mal schrieb: Warum sollte ich mein Leben als Fan eines Clubs vergeuden, der miserablen Fußball spielt? Man hört doch auch nicht sein Leben lang die Platten einer miserablen Band wie der Sex Pistols, selbst wenn es Phasen gab, in der das geil und wichtig war. Die Aufklärung hat uns zu Subjekten gemacht, die mit ihrem eigenen Willen ihr Schicksal ändern und selbst bestimmen können.

Als ich sieben Jahre alt war, nahm mich mein Großvater zum ersten Mal mit ins Neckarstadion und salbte mich auf seinem Haupttribünenplatz nach einem Tor von Horscht Köppel zum VfB-Fan. Es war der Platz, auf dem er fünf Jahre später den Herzinfarkt bekam, an dem er starb. Was für ihn sehr passend war und irgendwie wohl stimmig. Aber ich wollte nicht als Fan des VfB Stuttgart sterben. Ich wollte auch nie jemanden „kämpfen“ sehen. Ich will Fußball erleben und mich spüren, auch als Teil von etwas, aber zu meinen Bedingungen.
Ich bin jetzt seit vielen Jahren nicht mehr rot-weiß.
Sondern grün-weiß.
Mein Sohn ist selbstverständlich auch grün-weiß.
Was soll ich sagen? Unsere Farben leuchten hell am Fußballfirmament.
Okay, im Moment nicht ganz so hell. Aber ich habe diese Entscheidung nie bereut.
Traut euch.

Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates