Weihnachtsgeschenke: Die besten Musikbücher des Jahres 2016

Dylan, Cash, Moby, Carrie Brownstein und mehr – dies sind die Anthologien, (Auto-)Biografien und Porträts, die zum Besten gehören, was 2016 auf dem deutschen und internationalen Buchmarkt erschien.

Wolfgang Seidel  – Wir müssen hier raus! Krautrock, Free Beat,  Reeducation

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Mit der Resignation des linken Überlebenden zeichnet Wolfgang Seidel, der erste Schlagzeuger von Ton Steine Scherben, ein kulturgeschichtliches Panorama des Wirtschaftswunders und des damals repressiven Umgangs mit Subkulturen nach. Die revolutionären Bands, die trotz deutschtümelnder Unterdrückung aus Beatgruppen und Kunstschulkollektiven entstanden, wurden von der britischen Musikpresse unter „Krautrock“ zusammengefasst.

Seidel benutzt den Begriff heute nur wider­willig – die für eine Genrezuschreibung benötigte musikalische Nähe der Bands zueinander sieht er nicht. Zudem weist er auf die Ironie hin, dass ausgerechnet die Künstler, die sich vom biederen Deutschland distanzieren wollten, durch dieses Label auf ihre Nationalität reduziert werden.

(Ventil, 14 Euro) Jan Jekal

Christoph Maus  – Bob Dylan Worldwide

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Es gibt natürlich unzählige Bücher über Bob Dylan, aber so wie hier ist seine Karriere bisher noch nicht erzählt worden. Die großformatige „Anthology Of Original Album, Singles & EP Releases 1961–1981“ zeichnet anhand von kenntnisreich kommentierten Plattencovern die ersten 20 Jahre in Bob Dylans Schaffen nach.

Bis 1965 erschienen seine Songs lediglich in den USA, Kanada und England, doch mit der Folkrock-Explosion trug es die Musik bis nach Südostasien. Informativ und mitunter kurios: Eine illegale EP-Kompilation aus Thailand mit Tracks von u. a. Dylan und Michael Jackson etwa hat einfach einen Hummer auf dem Cover, auf anderen Platten taucht Dylans Konterfei auf, doch keiner seiner Songs.

(Maus of Music, 58 Euro) MB

Viv Albertine  – A Typical Girl

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Im Original heißen Viv Albertines Memoiren eigentlich „­Clothes, Clothes, Clothes. Music, Music, Music. Boys, Boys, Boys“, so betitelt nach Mutter Albertines Katalog der drei Lebens­inhalte ihrer Tochter. Das passt auch besser zum Ton dieses Buchs, in dem die Gitarristin der Post-Punk-Band The Slits mit schonungsloser Selbstironie nicht nur ihren Werdegang als feministische Pionierin im Gockelzirkus der Rockwelt der Spätsiebziger, sondern auch ­ihre Selbstzweifel und Niederlagen beschreibt. Und zwar ohne Berührungsangst vor Blut oder sonstigen Körpersäften.

Albertine entmystifiziert die alten Geschichten und macht sie so umso plausibler. Sei es der Kauf ihrer ersten Gitarre mit dem (hier ziemlich sympathisch rüberkommendenI Studienkollegen, Boyfriend und späteren Clash-­Gitarristen Mick Jones. Seien es die sinnlosen Proben mit Sid Vicious als Flowers Of Romance im Keller von Joe Strummers WG, ein missglückter Blowjob für Johnny Rotten, Fixen mit Johnny Thunders oder schließlich die lebensverändernde Begegnung mit der furchtlosen Ari Up. Man lernt: Beim emanzipatorischen Kampf der heute legendären Slits ging es nicht bloß um Ermächtigungsparolen, sondern um blanke Selbstverteidigung auf der Straße.

All das wäre an sich schon fesselnd genug, doch während andere Autobiografen mit dem Vergehen der stürmischen Jugendzeit ausrinnen, kommt Alber­tine hier gerade erst in Schwung: Da kommen die Jahre nach dem öffent­lichen Leben, von den Zweitkarrieren, dem Hausfrau- und Muttersein über eine lebensbedrohliche Krebserkrankung und ihre gescheiterte Ehe bis hin zur ­triumphalen Wiederfindung ihrer selbst. Dass ausgerechnet Vincent ­Gallo dabei eine tragende Rolle spielte, fällt gar nicht mehr groß ins Gewicht.

(­Suhrkamp, 18 Euro) Robert Rotifer

Pénélope Bagieu – California Dreamin’

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Als Cass Elliot 1964 zum ersten Mal die Beatles hört, ist sie so begeistert dass sie spontan eine Band gründet. Ihren The Mamas & The Papas winkt sogar ein Plattenvertrag, aber nur unter der Bedingung, dass die als nicht fernsehtauglich angesehene Cass abnimmt. Die Band lehnt ab und komponiert stattdessen die nicht totzukriegende Hippiehymne „California Dreamin’“. Der krickelkrakelige Zeichenstil der jungen Pariser Comiczeichnerin Pénélope Bagieu erinnert an Nick Knatterton, den Sherlock Holmes des deutschen Comics, passt jedoch gut zu der aus verschiedenen Erzählperspektiven aufgearbeiteten Geschichte dieses charmanten Pop­märchens.

(Carlsen, 19,99 Euro) Stephan Timm

Moby – Porcelain

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Wie ein dermaßen uncooler Typ wie Moby Anfang der 90er-Jahre zu einem der ersten Posterboys der Rave-Generation aufsteigen konnte, bleibt ein Rätsel, das auch seine Autobiografie nicht recht zu erklären vermag: Ein heterosexueller ­weißer DJ, der sich in der schwarzen und schwulen Dance­szene New Yorks rumtreibt und für Geld auch mal auf schäbigen Swingerpartys auflegt. Ein autodidaktischer Schlafzimmer­produzent mit Haarausfall, der eben noch in einem Kellerloch an obskurem Elektro werkelt und im nächsten Moment mit dem unbeabsichtigten One-Hit-Wonder „Go“ über die großen Bühnen der Welt karriolt. Ein idealistischer Christ, der in seiner Freizeit auf Besinnungswochenenden fährt, Drogen ablehnt und sich, lange bevor es irgendwie zum hippen Wertekanon gehört, von Tofu, Sojamilch und Karottensaft ernährt.

Die vielen Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten der ersten Phase seiner Karriere bis zur Veröffentlichung des Bestsellers „Play“ beschreibt der 50-Jährige ohne viel Selbstbespiegelung oder das Bedürfnis nach der großen philosophischen Lebensbilanz, dafür mit trockenem Humor und einer Liebe für das Anekdotenhafte. So kreuzen immer wieder andere Stars in spe, wie Madonna oder Jeff Buckley, den Weg des jungen DJs, ohne dass es der Handlung seiner Memoiren irgendwas hinzufügen würde.

Bis zur Hälfte des Buches meint man auch, es zur Abwechslung mal mit Musiker-Erinnerungen ohne Abstürze und Eskapaden zu tun zu haben, doch dann treiben seine Exfreundin und der Tod seiner Mutter Moby doch noch dem Alkohol in die Arme. Dass ein Typ wie er dann jahrelang nur noch Stripperinnen und Prostituierte zur Freundin hatte, fügt sich wiederum hervorragend in das an unwahrscheinlichen Wider­sprüchen reiche Künstlerleben.

(Piper, 24 Euro) Fabian Peltsch

Erik Weiss  – The Killers: Somewhere Outside That Finish Line

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Machen wir uns nichts vor, die Killers sind nicht gerade die charismatischste Band auf der Welt. Umso erstaunlicher, was der Berliner Fotograf Erik Weiss aus diesen eher drögen Typen herausholt. Hinter der Bühne und auf der Bühne, im heimatlichen Las Vegas und auf diversen Tour-Etappen, mit Kindern und Fans, beim Kuchenessen mit Bono, im Bus oder beim Barbecue: Großformatig und in schickem Schwarz-Weiß wirkt die Band plötzlich, als könnte sie doch noch U2 beerben.

Weiss ist auch noch ein anderes Kunststück gelungen: Mehrfach lacht Brandon Flowers, sonst angesichts von Kameras eher verstockt, sogar.

(Bravado, ca. 66 Euro) Birgit Fuss

Heinrich Detering – Die Stimmen aus der Unterwelt. Bob Dylans Mysterienspiele

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Bob Dylan erhielt im Februar des vergangenen Jahres am Abend vor der Grammyverleihung von der MusiCares Foundation eine Auszeichnung für sein Lebenswerk und überraschte die Zeugen dieser Zeremonie, indem er nicht etwa als Sänger in Erscheinung trat, sondern als Redner. Ungewohnt ausführlich gab er eine halbe Stunde lang Auskunft über sein Werk und seine Inspiration. Naturgemäß redete er in Rätseln: „­These songs of mine“, erklärte er etwa, „I think of them as mystery plays, the kind Shakespeare saw when he was growing up.“

Der Literaturwissenschaftler und Dylan-Kenner Heinrich Detering nimmt den Songwriter in der vorliegenden Studie beim Wort und erläutert mittels Analysen von Songtexten, Linernotes und nicht zuletzt Dylans kuriosen Films „Masked And Anonymous“ von 2003 (sowie des viel besseren Drehbuchs), inwiefern die Spätwerke des Songwriters tatsächlich als Mysterienspiele, ­also als volkstümliche religiöse „Oster-, Passions- und Weltuntergangs­spiele“ im literaturwissenschaftlichen und als Ergründungen des Mysteriums von Leben, Tod und der menschlichen Natur im dylanschen Sinn, gelten können.

Er weist den Einfluss von Shakespeare, Ovid und Homer nach und zeigt, wie auch die zu großen Teilen aus Zitaten der Genannten collagierten Songs als genuine Dylan-Originale gelten können. Selbst das Album mit Jazzstandards, „Shadows In The Night“ aus dem vergangenen Jahr, lässt sich in seiner Verschränkung von irdischer und religiöser Liebe als eine dylansche Variation von „Blood On The Tracks“ (1975) lesen. Ein anspruchsvoller Text, der musikalische Aspekte weitestgehend außer Acht lässt und einem doch die Ohren ­öffnet.

(C.H.Beck, 19,95 Euro) Maik Brüggemeyer

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