Weihnachtsgeschenke: Die besten Reissues und Boxsets 2016

Bowie, Sting, Dylan, Reed, Elvis und viele mehr – Sie lieferten die wichtigsten Boxsets und Reissues 2016.

Randy Newman – The Randy Newman Songbook

Sämtliche Klavieraufnahmen der drei Editionen in einer Vinylbox

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Langsam verwandelt Randy Newman sich in genau den alten, galligen, desillusionierten, lebensmüden und listigen Ragtime-Klavierspieler, der er schon immer war. „Feels Like Home“ ist ein Stück, das er nicht mehr singen, und „I Love To See You Smile“ ein Stück, das er nicht mehr empfinden kann, aber „A Wedding In Cherokee County“ klingt jetzt noch besser und fieser als 1974, und „A Few Words In Defense Of Our Country“ aus der Bush-Zeit und „I’m Dreaming“ vom Beginn der Obama-Ägide sind jetzt die angemessen grotesk erzählten Kneipenwitze.

Auf „Songbook 3“ gibt es „Short People“, das heute wieder bizarr wirkt, weil man darüber nachdenkt, was es eigentlich bedeutet und was es 1977 bedeutet haben muss, als es Platz zwei in den amerikanischen Charts belegte. Endlich gibt es „­Davy The Fat Boy“, „Love Story (You And Me)“ und „Bad News From Home“, und nur wenige Menschen werden sich über „Red Bandana“ freuen, aber hey, ich freue mich.

Witz über Putin?

Das „Songbook“, deren erste beiden Teile 2003 und 2011 erschienen, gibt es jetzt auch auf vier Schallplatten, weil angenommen wird, dass Randy-Newman-Hörer wohl Schallplatten lieben. Randy-­Newman-Hörer hören aber gern Randy-New­man-Songs, und jetzt gibt es fast alle in diesen Klavierfassungen, in denen man sie seit 40 Jahren im Konzert hört. Es ist ein Wunschkonzert des Missvergnügens und ­also der reine Spaß.

„I Love L.A.“ ohne das irre Rock-Arrangement ist Cole Porter mit behauptetem Rock-­Arrangement. „Old Man“ ist noch trügerischer, wenn das karg-­sentimentale Klavier-Arrange­ment falsche Gemütlichkeit verbreitet: „You must remember me, old man, I know you can if you try/ Look who’s come to say goodbye.“ Randy Newman ist immer an all die Orte ge­gangen, an die kein Songschreiber ging: zu Inzest, Pädophilie und Lustmord, zu Kleinwüchsig- und Fettlei­bigkeit, Geldgier, Alter, Tod und Gottlosigkeit.

Im nächsten Jahr soll, nach fast zehn Jahren, ein neues Album erscheinen. Mit einem längeren musikalischen Witz über Wladimir Putin.

(Nonesuch/Warner) Arne Willander

The Walker Brothers – Take It Easy With The Walker Brothers

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Die Situation schien absurd: Drei kalifornische Sonnyboys kommen nach London, zur Blütezeit des Beat, um dort mit dunkel verhangenen, brillant orches­trierten Balladen und Torch Songs binnen Monaten zum umjubelten Act aufzusteigen.

Nur die Beatles und Stones waren 1965 im UK populärer als die Walkers, dabei waren ihre Songs, geschrieben von Kapazitäten wie Bacharach/David oder Randy Newman, meist schwermütig und leidvoll, der Titel des Debütalbums daher herrlich ironisch: Nimm’s leicht mit den Walker Brothers! Leider wird die LP hier mit vier Bonus-Cuts verfälscht.

(MOV) Wolfgang Doebeling

Big Star – Complete Third

Alex Chiltons letztes Meisterwerk mit vielen Demos und Outtakes

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Mit Songs wie „Holocaust“ und den finalen Versen „You’re a wasted ­face/ You’re a sad-eyed ­life/ You’re a holo­caust“, von Alex Chilton an sich selbst gerichtet, war dies Album weithin ein verstörendes und ungeschminktes Tondokument von Einsamkeit und Depression. Die Melodie von „O, Dana“ erinnerte noch ein wenig an Teenage-Angst-Balladen der späten 50er-Jahre – der Vortrag definitiv nicht.

Im Übrigen war die unerhörte Mischung aus Psychedelic-Barock-Pop („Take Care“), drogeninduzierten Bekenntnissen („Big Black Car“, „Downs“), dissonantem Gitarren­pop („Kanga Roo“) und mehreren Songs, die vom damals erst 24-jährigen Carl Marsh kongenial arrangiert wurden (besonders eindrucksvoll: „For You“), so gewöhnungsbedürftig und wiederum so originell, dass sie viele Bewunderer und praktizierende Nachahmer fand, von R.E.M. bis hin zu Elliott Smith. Mittlerweile weniger Beatlemaniac denn Bewunderer der frühen Velvet Underground, nahm Chilton auch eine Cover­version von „Femme Fatale“ auf. „Dream Lover“ bot ein sinnfälligeres Konzept von Dreampop als vieles, was unter dem Jahre später erfundenen Begriff firmiert.

Überlegene Klangqualität

Im Lauf der sich lange hinziehenden Sessions fiel Chilton offenbar ein, dass er Jerry Lee Lewis, der berühm­teren Memphis-­Legende, mit einer schön bläserlastigen Deutung von „Whole Lotta Shakin’ ­Goin’ On“ seine Ehrerbietung erweisen könnte. Auch dafür hatte Produzent Jim Dickinson Gastmusiker wie ­Steve Cropper verpflichtet. Am ­Ende diente er die Bänder, mehr Work in Progress denn fertiges Album, verschiedenen befreundeten Platten­managern an – vergeblich.

Chiltons genau genommen „Unvollendete“ wurde im Lauf der Jahre von Indielabels in immer wechselnder Songauswahl vorgelegt. Vier Dutzend Outtakes – Demos und Roh-Mixes auf die ersten beiden der drei CDs verteilt – dokumentieren die Entstehung des längst legendären Werks. Das kommt mit deutlich überlegener Klangqualität gegenüber der vormals definitiven „Third/Sister Lovers“-CD von 1992.

(Omnivore) Franz Schöler

Lou Reed –  The RCA & Arista Album Collection

Der Wilde: 16 fabelhafte Alben aus den Jahren 1972 bis 1986 in einer Box mit Fotos, Booklet und Plakat-Faksimiles

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Lou Reed hat das Lakonische in die Rockmusik eingeführt. Der Rock’n’Roll war bei Reed niemals eine jugendliche, eine schwärmerische Angelegenheit, sondern eine grimmige, eine brutale, eine Sache des Überlebens. In einem Song hatte er früh alles gesagt: „Rock & Roll“. Die paar Songs, die jeder kennt, sind auf einer einzigen Platte, „Trans­former“ von 1972, und zwei davon sind untypisch sentimental: „­Perfect Day“ und „Satellite Of Love“. „Transformer“ war Reeds androgyne Phase, sie endete schnell. Lou Reed war kein Eklektiker; er führte für sein Schreiben stets nur Delmore Schwartz als Lehrer an, und das stimmte wahrscheinlich sogar.

Reeds Lieder handeln von Rauschgiften, Obsessionen, den Perversionen und Ekstasen der Liebe, von Abhängigkeit, Einsamkeit und den Schrecken der Großstadt; er ging immer dorthin, wo es wehtut. Als er 1975 sehr unzufrieden mit seiner Plattenfirma und seiner Karriere war, nahm er „Metal Machine Music“ auf, „An Electronic Instrumental Composition“, eine Platte voll Gitarrenlärm – auf dem Cover sieht er aus wie ein Bombenleger, kurzhaarig, blondiert, mit Sonnenbrille und Nieten an der Jacke.

„Berlin“ handelt nicht von Berlin

Reed nahm zu viele Platten auf und spielte in den späteren Jahren allzu gern Gitarre, und statt Songs gelangen ihm nur noch dröhnende Mäander. Irgendwann um 2007 beschloss er, dass „Berlin“ von 1973 ein verkanntes Meisterwerk sei, und die Welt fand das dann auch, und er führte das Album wie in der Philharmonie auf, mit Kinderchor und Filmprojektion. Das Beste an „Berlin“ ist, dass es nicht von Berlin handelt und Reed noch nie dort gewesen war, als er die Songs schrieb.

Weil er nach den 70er-Jahren immer noch da war, verständigte man sich darauf, dass sein Spätwerk begonnen hatte und er hin und wieder überraschend respektable Platten machte. Überraschenderweise waren es nacheinander „The Blue Mask“, „Legendary Hearts“, „New Sensations“ und „Mistrial“, lauter tolle Platten, die in den 80er-­Jahren natürlich niemand hören wollte. Er war etwas über 40 und wurde in Besprechungen „Onkel Lou“ genannt. Er war notorisch schlecht gelaunt. Jeder liebte es, von ihm geschurigelt zu werden. Erst 1989 kam der Moment, da Lou Reeds Größe noch einmal erkannt wurde: „New York“ war sein letztes Meisterwerk.

Die letzte der 16 Platten in dieser Box ist „Mistrial“ von 1986.

Es ist die berückendste Rockmusik der Welt darunter.

Pappschatullen, aber hey.

(Sony) Arne Willander

Terry Allen – Lubbock (On Everything)

Die ersten beiden Alben des  texanischen Country-Outlaws

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Er dürfte so ziemlich der erste Songwriter gewesen sein, der sein Debüt ursprünglich als Soundtrack für ­eine Ausstellung seiner Kunst­werke konzipierte. Dass Little Feat Terry Allens „New Delhi Freight Train“ einer ihrer seltenen Coverversionen für würdig befanden, war nur ein Indiz dafür, welchen Ruf er bald auch außerhalb von Lubbock/Texas und unter den Koryphäen der AltCountry-Fraktion (Guy Clark, Joe Ely, Butch Hancock) genoss.

Die Songs von „Juarez“ waren Pulp-Fiction, eine wüste Geschichte wie „The Getaway“. Keine Neo-Noir-Story dagegen vier Jahre später „Lubbock (On Everything)“, in den Titeln von Personen wie „The Girl Who Danced Okla­homa“, „The Wolfman Of Del Rio“ und „The Beautiful Waitress“ bevölkerte Songs, die manchmal geschliffene Satiren auf Nashville („Flatland Farmer“) und sogar seinen eigenen Job als Maler und Bildhauer („Oui [A French Song]“) waren: Allens Geschichten bisweilen so komisch wie die von John Prine! Ein Meisterwerk in viel besserem Remastering als dem der CD von 1995.

(Paradise of Bachelors/Cargo) Franz Schöler

Mark Lanegan – The Winding Sheet/Whiskey For The Holy Ghost/
Scraps At Midnight

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Grunge lag in den letzten Zügen, doch hatten die Screaming Trees noch nicht das Handtuch geworfen, als Mark Lanegan seine ersten drei Solo-LPs in Angriff nahm. Die Band, deren Sänger er nur geworden war, weil er als Drummer versagte, hangelte sich über Jahre mühsam die Karriereleiter hinab und nahm dabei längere Auszeiten, die Lanegan nutzte, um seine „Trilogie der Finsternis“ aufzunehmen, wie ein Kritiker nicht übertrieb.

Auf „The Winding Sheet“, erschienen 1990, entsagt Lanegan allen Grunge-Lärms, umfängt er dunkelsüchtige Songs mit tiefer Stimme, die bedrohlich klingt und nichts Gutes verheißt. Der Albumtitel steht als Synonym für „Grabtuch“, die Texte emanieren Kälte, ihr Autor weiß sich verloren: „He came in this world ­alone/ Spent all his time ­alone/ He left this world ­alone/ Woe.“ Leadbellys schattiges Pinienlied wird gecovert, Mike Johnson und Kurt Cobain wirken mit auf dem Schmerzenswerk, dessen düstere Gedankenwelt auf „Whiskey For The Holy Ghost“ Anfang 1994 ihre Fortsetzung findet, indes von Koproduzent Johnson musikalisch subtiler in Szene gesetzt.

Lebensüberdruss

Lanegans rostige Stimme schmirgelt autoritativ und prominent im Mix, wird auf „Scraps At Midnight“ knapp fünf Jahre später aber mehr ins Instrumentarium eingebunden. Wieder kennt die Themenpalette keine hellen Farben, es geht um Seelenpein und Lebensüberdruss, um die scheußlichen Begleitumstände des Entzugs, um „cold chills and shakes“.
Drei Platten, die eine Schicksalsgemeinschaft bilden, auch im Blick auf ihr schnelles Verschwinden aus den Regalen der Läden seinerzeit.

Die Schallplattenauflagen waren in den Neunzigern oft geringer als die Nachfrage, entsprechend hoch schossen die Preise auf dem Sekundärmarkt. Heute wird im Zeichen des Vinyl­booms nun vielfach nachgeholt, was damals versäumt wurde. Eine Box mit Lanegans frühen Alben wurde unlängst angeboten, inzwischen kann man sie auch wieder einzeln erstehen, am besten natürlich chronologisch.

(Sub Pop) Wolfgang Doebeling

Bob Dylan – The 1966 Live Recordings

Aufnahmen aus 23 Konzerten auf 36 CDs: Sämtliche Live-­Mitschnitte aus des Meisters vielleicht wichtigstem Bühnenjahr

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Mitte der Sechziger stand Bob Dylan gemeinsam mit den Beatles und den Beach Boys auf dem Gipfel der populären Musik. Und da er im Gegensatz zu seinen Mitbesteigern kein Studiozauberer, sondern ein Vortragskünstler war und ist, findet sich die Essenz seines Werkes in den abendlichen Ritualen auf den Bühnen dieser Welt. Nun bringt Sony, um nach 50 Jahren das Copyright zu erneuern, alle Aufnahmen seines Bühnenschaffens von 1966 komplett in einer für den Umfang preisgünstigen Box heraus: 36 CDs in einfachen Papphüllen plus Begleitheftchen mit Linernotes von Clinton Heylin.

Die Aufnahmen stammen von insgesamt 23 Konzerten, die Dylan im Frühjahr des Jahres spielte, 13 gibt es mehr oder weniger vollständig, dreieinhalb in seinerzeit von der CBS für ein geplantes Live-Album aufgenommenen Fassungen (eines, aus der Free Trade Hall in Manchester, das die Legende in die Royal Albert Hall verlegte, ist bereits als „Live 1966 – The ,Royal Albert Hall‘ Concert“ bekannt), fünf sind nur durch mies klingende Mitschnitte aus dem Publikum dokumentiert, der Großteil jedoch in leicht dumpf und trocken klingenden Soundboard-Aufnahmen, bei denen der Gesang, wie es damals bei den Konzerten über die Beschallungsanlagen zu hören war, nach vorn gemischt ist.

Weltkulturerbe

Die Songs sind an jedem Abend mit wenigen Ausnahmen die gleichen: sieben Solodarbietungen und acht Stücke mit elektrifizierter Band (den Hawks mit Mickey Jones bzw., zu Beginn der Tour, Sandy Konikoff am Schlagzeug). Auch die Dramaturgie der Abende ähnelt sich. In der ersten Hälfte lauscht das Publikum bedächtig Dylans in Tempo und Betonung stark variierendem, geradezu hypnotischem Vortrag, in der zweiten machen Folkpuristen ihrem Unmut über die elektrifizierte Bandbegleitung Luft. Die Musiker reagieren auf diese negative Energie, ihr Sound wird von Abend zu Abend schärfer und mächtiger, Ansagen und Gesang werden bissiger.

Die Aufnahme des ersten Konzerts in London ist die neben dem Manchester-Mitschnitt klangtechnisch beste der Tour und wird als „The Real Royal Albert Hall Concert“ auch auf Doppel-CD/LP veröffentlicht. Doch das Juwel der Box ist die Show vom Tag danach am selben Ort, das letzte Konzert der bis auf Weiteres letzten Tour. Dylan ist am Ende seiner Kräfte und Nerven, wirkt fragil, versucht sich zu erklären, bis die Zwischenrufe zu laut werden: „We just play our music and leave and you can go out and read some books“, spottet er.

Nach der Verabschiedung („And believe me, we enjoyed every minute of being here.“), entfachen die Musiker mit „Like A Rolling Stone“ einen Orkan, wie es ihn in der Geschichte des Rock’n’Roll vorher und nachher nicht gegeben hat. Weltkulturerbe.

(Columbia/Sony) Maik Brüggemeyer

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