Weihnachtsgeschenke: Die besten Reissues und Boxsets 2016

Bowie, Sting, Dylan, Reed, Elvis und viele mehr – Sie lieferten die wichtigsten Boxsets und Reissues 2016.

Root Hog Or Die – 100 Songs, 100 Years – An Alan Lomax Centennial Tribute

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Hundert Jahre alt wäre Alan Lomax unlängst geworden (er starb 2002), diese umfängliche Box feiert nun den großen Musikethnologen und Feldforscher, der sich wie kein anderer um die Bewahrung und Würdigung musikalischer Traditionen verdient gemacht hat.

In Austin/Texas geboren, unternahm der junge Alan seine ersten Fieldtrips in die nähere Umgebung noch im Schlepptau des Vaters, John A. Lomax, selbst Musikforscher und passionierter Sammler vom Vergessen bedrohter Musik, mündlich überlieferter Songs zumeist, aber auch regionaler Spielweisen. Alan führte die Arbeit des Vaters fort, bereiste jahrzehntelang die Welt, bannte Tausende Aufnahmen mit seinem Tonbandgerät, eruierte deren kulturelle Hintergründe und gab das erworbene Wissen weiter, nicht zuletzt in Form grundlegender Fachliteratur.

Sechs LPs umfasst die Box, das Sequencing der 100 Tracks erfolgte nicht chronologisch, sondern nach Gesichtspunkten künstlerischer Kohärenz. Eine verwirrend vielseitige, oft faszinierende und stets instruktive Exkursion über mehrere Stunden, die in Amerika beginnt, mit Blues und Folk, aber auch nach Britannien führt, nach Italien und Rumänien, nach Trinidad und Grenada. Man begegnet bekannten Namen mit unbekannten Recordings wie Bukka White und Son House, Bob Dylan und Shirley Collins.

Essential Listening

Den meisten Musikern, die hier zu Ehren kommen, blieb freilich jedweder Ruhm versagt, was ihre Darbietungen natürlich nicht schmälert. Von den zahlreichen großartigen, nicht selten ergreifenden Aufnahmen seien stellvertretend nur zwei genannt: Kitty Gallaghers 1951 in Donegal/Irland tief unter die Haut gejammertes „Keen For A Dead Child“ und die ebenso traurige, zwei Jahre später in London aufgenommene Ballade „Her Mantle So Green“ von Margaret Barry, deren Stimme widerstreitende Gefühle auf unvergessliche Art hörbar macht.

Das beiliegende Booklet ist informativ, sofern man die Zeit aufbringt, die Verweise auf Ort und Zeitpunkt der Aufnahmen den jeweiligen LP-Tracks zuzuordnen. Ein Aufwand, der indes lohnt. Das gilt gleichermaßen für die Anlage von rund 100 Euro für dieses auf 1.000 Exemplare limitierte Set. Essential listening.

(Mississippi/Fenn) Wolfgang Doebeling

Portishead – Dummy

Portishead - Dummy
Portishead – Dummy

Während 1994 in Manchester und London der Britpop angriffslustig sein Haupt reckte, auf den Schultern von Sixties-Giganten, bot Bristol die neuartigere Alternative durch einen unerhörten, aufregenden Sound. TripHop nannte man das frostig-nachtschattige Gebritzel aus Synths und Samples, durchschossen mit Gitarren-Reverb aus der Soundtrack-­Retorte und atmosphärisch geladen mit verhexten Jazz-Vibes.

Beth Gibbons barmte dazu, ihr trauerumflortes Tim­bre machte schaudern. Und tut es noch immer, obwohl doch eigentlich nichts antiquierter und überholter ist als die Innovation von gestern.

(Island) Wolfgang Doebeling

The Bevis Frond – New River Head

Eklektischer Alternative Rock aus Großbritannien mit Bonusmaterial

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Ein wenig Hendrix, ein bisschen Byrds und eine gute Portion British-ness: Mit diesen zugegebenermaßen simplen Ingredienzien startete Nick Saloman sein Musikprojekt The Bevis Frond. „New River Head“ wird nun glücklicherweise 25 Jahre nach Erscheinen und zum 30‑jährigen Bestehen der Formation endlich in einer mustergültigen Fassung veröffentlicht und um interessantes Bonusmaterial ergänzt. Ursprünglich wurde es von der Plattenfirma Reckless Records aufgrund der massiven Länge zersägt; nun bekommen ausufernde Tracks wie die glühende Ambient-Nummer „The Miskatonic Variations II“ endlich den Platz, den sie verdienen.

Mit Gastmusikern wie Adrian Shaw und Martin Crowley knöpfte sich Saloman die Klassiker der 60er-Jahre-Psychedelia vor und bereicherte sie um allerhand wunderliche Melodien. „White Sun“ prunkt mit schrägem Saxofon und wandelt auf den Spuren von John Zorn, „Waving“ ist ein zärtlich-melancholisches Folk-Kabinettstück, das Elvis Costello nicht besser hätte singen können. Delikater Eklektizismus.

(Fire/Cargo) Marc Vetter

Ramones – Ramones

Das Debüt der New Yorker in der „40th Anniversary Deluxe Edition“

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Blickt man auf 1976 zurück, so war dies das Jahr, in dem Peter Frampton, Stevie Wonder und die Eagles die US-Albumcharts dominierten. Genauso war es aber auch das Jahr, in dem Martin Scorseses „Taxi Driver“ in den Kinos anlief und vier New Yorker Außenseiter dem Punkrock seine unmittelbare Initialzündung gaben. Dem vorherrschenden musikalischen Zeitgeist machten die Ramones auf ihrem gleichnamigen Debütalbum kurzen Prozess: 14 schnörkellos-schnelle Songs in knapp 29 Minuten; bis vier zählen zu können reicht auch in etwa aus, um die Menge der verwendeten Akkorde darin zu bestimmen.

Mit einer Vorliebe für den Pop’n’­Roll der frühen Sechziger (das Chris-Montez-Cover „Let’s Dance“ zeugt unverhohlen davon) schickte sich das spacke Quartett aus Queens in Lederjacken, Jeans und Turnschuhen an, als hyperaktive männliche Antwort auf die Shangri-Las und die Ronettes den Rock zu entschlacken und herrlich holzschnittartig auf seine Grundzüge zu reduzieren.

Schnüffelstoff-Oden

Inhaltlich gleicht die Platte dabei als schizophrenes und karikaturartiges Siebziger-Zeitbild des schäbigen Schmelztiegels New York einem vertonten „Mad“-Magazin: Zwischen Bubblegum-Beat („Listen To My Heart“) und Baseballschläger-Pädagogik („Beat On The Brat“), Schnüffelstoff-Ode („Now I Wanna Sniff Some Glue“) und provokativ-satirischen Nazi-Anspielungen („Blitzkrieg Bop“, „Today Your Love, Tomorrow The World“), unschuldiger Tanztee-Romantik („I Wanna Be Your Boyfriend“) und Gewaltfantasien („Chain Saw“, „53rd & 3rd“) changierend, lagen sympathischer Stumpfsinn, antiautoritäres Aufbegehren und Gossengenialität nie so nah beieinander.

Schelmisch auf 19.760 Exemplare limitiert, enthält diese aus drei CDs sowie der Vinylfassung des Album bestehende Remaster-Jubiläums-Box neben diversen Outtakes, bisher unveröffentlichten Demos und zwei Live-Mitschnitten auch den damals als Alternativversion angedachten, nun nachträglich angefertigten Mono-Mix der Platte.

(Rhino/Warner) Frank Thiessies

Elvis Presley – Way Down In The Jungle Room

Elvis Presleys fantastische Aufnahmen für „Moody Blue“, 1976 in einem mobilen Tonstudio in Graceland, auf zwei CDs

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Weil Elvis Presley auch 1976 von Colonel Parker durch die Lande geschickt wurde, konnte er keine Studioaufnahmen machen – und wenn der Prophet nicht ins Studio kommt, kommt das Studio eben zum Propheten. Der Produzent Felton Jarvis brachte ein mobiles Studio nach Graceland, das im „Jungle Room“ installiert wurde. Das Mobiliar jenes Zimmers ist die Fantasie eines durchgeknallten Großwildjägers, der das geheime Leben der Baumrinde studiert und den Blick wohlgefällig auf hawaiianischem Schnitzwerk und Totems ruhen lässt.

Nun plante Elvis seit den 60er-Jahren, einen Schimpansen an das Steuer eines kleinen Automobils zu setzen, das er selbst – im Kofferraum versteckt liegend – lenken wollte, sodass der Eindruck eines fahrenden Affen entstehen würde. Doch noch 1976 war die Technik nicht so weit fortgeschritten, dass Elvis solch ein Gefährt erwerben konnte – offenbar war die Entourage, sonst für jeden Schabernack zu haben, nicht in der Lage, eine solche Spezialanfertigung in Auftrag zu geben. Allerdings hätten auch die Rechte des Schimpansen berücksichtigt werden müssen.

Versenkt die Pavianstatue!

Jedenfalls produzierte Felton Jarvis mit Elvis ein Potpourri von Country-Schlock, gutmütigen Schnulzen und gemütlichem Boogie Woogie, Streicher und Zeug wurden hinzugefügt. Elvis Presley war vielleicht malad, aber sobald er die Stimme zu „Love Coming Down“ und „Solitaire“ – bei jedem anderen Sänger konventionelle, kitschige Balladen – erhob, konnte er Herzen brechen. Jarvis’ patentiertes ­Piano- und Pedal-Steel-Gitarren-Arrangement bringt „He’ll Have To Go“ nach Hause, und Elvis’ glühender, sehnsuchtsvoller Dämmergesang müsste auch den Teddybären auf einem Sofa im Dschungelraum zu Tränen gerührt haben. „Blue Eyes Crying In The Rain“ und „Hurt“ (mit gemaunzter Sprechpassage) versenken die Pavianstatue.

Eine zweite CD enthält die Outtakes der Sessions, noch mehr erschütternder Glimmer & Doom. Von dem Album „Moody Blue“, das einige dieser Stücke enthält (die meisten sind auf „Elvis Presley Boulevard“, 1976), wurden 1977 eine Million Exemplare verkauft – für Elvis ein Frühstückchen, heute womöglich die Gesamtzahl aller in einem Jahr verkauften neuen Tonträger der Welt.

Im Booklet von „Way Down …“ sieht man den RCA-Bus vor dem Neben­gebäude in Graceland – und ein Foto von Ron Tutt, David Briggs, James Burton und Norbert Putnam, den Meistern, die für Elvis Presley spielten.

(RCA/Sony) Arne Willander

Emerson, Lake & Palmer – Emerson, Lake & Palmer

Die ersten drei Alben des herrlich überkandidelten Prog-Rock-Trios

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Als sich Keith Emerson von The Nice, Greg Lake von King Crimson und Carl Palmer, der zuvor bei Atomic Rooster und The Crazy World Of Arthur Brown Schlagzeug gespielt hatte, 1970 zusammentaten, waren sie eine der ersten Supergroups. Dass sie es als Band verdammt ernst meinten, bewies ihr Debütalbum so eindringlich wie eindrucksvoll. Vergleichbares hatte es bis dato nicht gegeben.

Emerson warf alles in die Waagschale, was er hatte, verband Bach und Bartók mit Jazz und Psych-Rock-Exzessen, bediente Piano, Synthesizer, Kirchenorgel und Clavinett. Mit ­Lakes Gespür für hymnische, oft folkin­spirierte Melodien entstanden meisterliche Stücke wie „Take A Pebble“ und „Lucky Man“.

Jazz-Vignetten

„Tarkus“, nur ein Jahr später veröffentlicht, ist versierter, durchkonzeptionierter, nicht besser. Das 20-minütige Titelstück optimierte noch einmal alle Qualitäten des Debüts, zeigte aber auch das Limit: Noch mehr Stilgrenzen sprengende, olympische Gigantomanie ging nicht. Der zweite Teil der Platte beinhaltet ein paar überraschend kurzweilige Pop- und Jazz-Vignetten. Der Grund, weshalb ELP von vielen Menschen inbrünstig verabscheut werden, dürfte „Pictures At An Exhibition“ sein.

Noch heute werden Schüler im Musikunterricht mit dieser modernen Bearbeitung von Mussorgskis berühmtem Zyklus gefoltert, weil sie als Paradebeispiel für die Verschmelzung von Rock und Klassik gilt. Diejenigen, die sich von diesem Trauma befreien können, werden an der überbordenden Musikalität ihre helle Freude haben.

Den ersten beiden Alben sind „Alternate Mixes“ beigelegt, teils mit verändertem Tracklisting, von Prog-Professor Steven Wilson neu kompiliert und gemischt. „Pictures At An Exhibition“ wurde um Aufnahmen aus zwei Konzerten ergänzt.

(BMG/Warner) Max Gösche

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