Wer Glück hatte, war jung

Zwischen freier Liebe und Verlustangst, Blütentraum und Vietnamschock: Selbstfindung war problematisch in den Sixties, deutet Wolf Wondratschek in einem Gedicht an, das er exklusiv für den ROLLING STONE verfasst hat.

Neulich vor fünfzig Jahren

Ich weiß nicht recht, was ich Euch über eine Zeit erzählen soll,

die den Geist aufgegeben, die Finger vom Griffbrett der Gitarren

genommen und zum letzten Mal, wie es sich gehört, geliebt hat.

Nie den Himmel zu fassen gekriegt, nicht einmal nachts,

nicht mal die Hälfte eines Himmels. Wann, frage ich Euch,

fiel ein Stern zur Erde, nah genug, um daran zu glauben?

Wann ein Wort, das den erlöste, der es sprach?

Es ging auch sonst einiges schief.

Ich hatte Kartoffeln im Backofen.

Es roch nach Katzen, aber ich entdeckte keine.

Ich bat das Mädchen, das bei mir war, um den üblichen Gefallen.

Einer muss damit ja anfangen, dass sich die Erde bewegt!

Es war der 2. März 1965, neulich vor fünfzig Jahren.

Es waren nicht die Jahre, eine vernünftige Zukunft anzustreben,

aber alles war möglich, was ich bis heute glauben will. Ich glaube

an den Tag, der es mir beweist, ein Tag, der keine Wunder verspricht,

aber mit jeder Stunde, die vergeht, ernst macht. Was hätte

es gebracht, in den sechziger Jahren sechzig zu sein?

Dann hörte die Musik auf und eine Radiostimme teilte mit,

dass die USA mit der Bombardierung Nordvietnams begonnen habe.

Ein Krieg, den zu bekämpfen unsere Ehre war.

Eigentlich will ich es mir selbst erzählen.

Wer Glück hatte, war jung. War jemand schon einmal so jung?

Das Mädchen, das bei mir war, konnte es nicht mehr – wie noch ihre Mutter –

mit ihrem Gewissen vereinbaren, nur einen Mann zu lieben,

und schloss sich, um über alles nachzudenken, ins Badezimmer ein.

Und ich, die Klinke einer seit fünfzig Jahren verschlossenen Tür

in der Hand, hörte, wie sie but where is the schoolgirl who used to be me

sang und mich für alles, was mit ihr nicht in Ordnung war,

verantwortlich machte. Dann war es still.

Ich hörte, wie Wasser in die Wanne lief und forderte sie auf,

Vernunft anzunehmen. Aber sie gab nicht nach, und die Tür

auch nicht. Sie musste, vermutete ich, eingeschlafen sein.

Das Wasser lief über den Wannenrand und unter der Tür

durch, es trieb mich stromabwärts gegen die Fenster,

hinter denen es, wie ich sah, hell wurde.

Irgendwann gegen Morgen schwamm sie in ihrem Brautkleid

aus Badeschaum an mir vorbei.

Die sechziger Jahre? Es war nicht weiter schlimm,

dass sie vorbei waren. Es kamen die siebziger.

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