DIE NACKTE KANONE

Ein Tätowierstudio auf der nördlichen La Brea Avenue in Los Angeles. Miley Cyrus will sich ein neues Tattoo stechen lassen. „Alles klar, Gesicht nach unten“, sagt der Nadelkünstler, ein Glatzkopf namens Mojo. Miley dreht sich auf den Bauch streckt den Hintern in die Luft. Auf ihren dreckigen Fußsohlen prangen die mit Kugelschreiber geschriebenen Wörter ROLLING (rechter Fuß) und $TONE (linker Fuß).

„Die Leute lassen sich den größten Mist tätowieren“, sagt Miley. „Hast du gewusst, dass Alec Baldwin die Initialen von Hannah Montana auf der Haut trägt? Nein, warte -Stephen Baldwin! Er hat behauptet, er wäre mein größter Fan, und als ich ihm sagte, meine größten Fans hätten Tattoos, ließ er sich ,HM‘ auf die Schulter tätowieren.“ Miley schüttelt den Kopf: „Echt verrückt“.

Für ihre erste große ROLLING STONE-Geschichte wollte Miley etwas Lustiges unternehmen. „Ich dachte zunächst an eine Partie Lasertag“, erzählt sie, „doch eigentlich ist dieses Geballer voll bescheuert. Oder wir könnten zum Bowling gehen, aber wie alt sind wir, 90?“ Und dann hatte sie die Idee mit dem Tattoo. „Okay, Darling, bist du bereit?“, fragt Mojo. „Ja“, murmelt sie, und schon lässt Mojo die Nadel rotieren, die extrem laut zu surren beginnt. „Ich hasse es, die Nadel zu sehen“. Miley reckt den Hals nach hinten. „Tut das weh? Bestimmt, oder?“

Es sind die ersten Tätowierungen an den Füßen der 20-jährigen, aber ansonsten hat sie bereits jede Menge davon: Ein Peace-Zeichen, ein Gleichheitszeichen, ein Herz und ein Kreuz (alle auf den Fingern), die Wörter „Love“ in der rechten Ohrmuschel und „Just Breathe“ über dem Rippenbogen, eine Skizze von Leonardo da Vinci am rechten Unterarm und darüber die römischen Ziffern VIIXCI für 7/91, Monat und Jahr, in dem sich ihre Eltern kennengelernt haben. Die Innenseite ihres linken Unterarms ziert der Satz „So That His Place Shall Never Be With Those Cold And Timid Souls Who Neither Know Victory Nor Defeat“. Laut Miley stammt er aus einer Rede von Teddy Roosevelt. „Es geht um Leute, die darüber urteilen, wer Sieger und wer Verlierer ist, ohne je selbst im Kampf zu stehen.“ Mit anderen Worten, „es geht um Kritiker“. Vier Tage zuvor war Miley bei den MTV Video Music Awards (VMAs) aufgetreten. Ein weltweiter Aufreger. Miley hatte Dinge mit einem Schaumstofffinger angestellt, die den Erfinder des foam fingers dazu veranlassten, sie wegen „Herabwürdigung“ einer „Ikone“ zu verklagen. Viele verurteilten Mileys Auftritt, doch ihr war das egal. Genau darum geht es ja in dem Roosevelt-Zitat. Lasst die Nörgler doch nörgeln!

Mojo hantiert mit der Nadel. Auf der Anlage läuft „Apache“ von der Incredible Bongo Band. Mojo sticht das R, dann das O. „Alles okay?“, fragt er. „Alles bestens“, antwortet Miley mit zusammengebissenen Zähnen. Dann macht er sich an das L. „Motherfucker!“

Auf der Couch gegenüber springt ein junger Mann namens Cheyne auf. Der 22-Jährige ist Mileys Assistent und zugleich ihr bester Freund. Die beiden kennen sich seit Ewigkeiten, aber eingestellt hat Miley ihn erst voriges Jahr, bevor sie nach Philadelphia und Miami ging, um ihr neues Album aufzunehmen. Cheyne jobbte damals bei Starbucks. „Ich dachte: ,Scheiße'“, erinnert sich Miley. „Mein bester Freund kann doch nicht bei Starbucks Kaffee verkaufen! Seitdem arbeiten wir zusammen.“

Beim G trifft Mojo einen Nerv. „Auuu!“, kreischt Miley. „Geht’s?“, erkundigt sich Mojo. Sie: „Ich lebe noch.““Okay. Wir haben’s fast geschafft.“ Mojo setzt kurz ab, damit Miley einen Moment verschnaufen kann, dann vollendet er sein Werk. „Easy!“, sagt Miley. Mojo fragt sie, ob sie ihm einen Gefallen tun kann. Er holt sein Handy aus der Tasche und ruft seine Tochter an. Josie ist zehn und gerade in die fünfte Klasse gekommen. „Was für ein cooler Papa!“, findet Miley. Josies Gesicht taucht auf dem Display auf: „Hi, Daddy!“ „Hi, mein Engel!“, antwortet Mojo. Da schaltet Miley sich ein: „Hey! Ich hab gehört, du kannst das Miley-Gesicht!“ Josie lächelt und streckt die Zunge raus. Miley macht sofort mit, „super!“ Mojo unterbricht sie:“Okay, sag gute Nacht.“ Josie:“Gute Nacht!“ „Adios!“, verabschiedet sich Miley. Mojo legt auf und Miley springt vom Tisch und landet auf ihren Füßen. „Motherfucker!“

Miley Cyrus hat sich mit Berühmtheit -in verschiedenen Ausmaßen – ihr Leben lang herumschlagen müssen. Zunächst als Tochter von Country-Star Billy Ray Cyrus, dessen „Achy Breaky Heart“ 1992 das war, was 2013 „Blurred Lines“ ist. Dann als unheimlich erfolgreiche Disney-Ikone Hannah Montana. Doch das alles war nur ein Vorgeschmack auf Miley 3.0, die Zunge zeigende, wild twerkende Popsängerin. In den letzten fünf Jahren hat Miley ihren Übergang ins Erwachsenenalter fast schon strategisch vorbereitet. Mit 15 entfachte sie ihren ersten Skandal, als sie sich mit einem Hauch von nichts vor der Brust für die „Vanity Fair“ ablichten ließ. („Ich schäme mich so“, sagte sie später, „und ich entschuldige mich bei meinen Fans, die mir sehr am Herzen liegen.“) Das Jahr darauf war es dann die Poledance-Einlage bei den Teen Choice Awards. Wieder ein Jahr später wurde die noch 17-Jährige in Spanien beim Biertrinken fotografiert, und vier Wochen danach postete TMZ ein Partyvideo, auf dem sie einen tiefen Zug aus der Bong nimmt -laut Miley bestückt mit legalem Azteken-Salbei.

Am Morgen nach dem Besuch im Tattoostudio schickt mir Miley eine SMS: „Was geht ab? Miley.“ Sie fragt, ob ich zu ihr rüber kommen kann. „Vielleicht so gegen fünf? Wir könnten uns was zu essen bestellen und zu Hause abhängen!“

Mileys Zuhause ist in Toluca Lake, auf halben Weg zwischen Burbank und Studio City. Es ist noch dasselbe Haus, in das Familie Cyrus einzog, als Miley mit den Dreharbeiten zu „Hannah Montana“ begann. Bis zu ihrem 18. Geburtstag wohnte sie bei ihren Eltern, dann kaufte sie sich eine eigene Bude in den Hollywood Hills, mit viel Glas, coolen Möbeln und einem Aquarium im Kamin. Doch allein fühlte sie sich dort nie wirklich sicher, und als eines Tages ein verwirrter Fan mit dem Gummiknochen ihres Hundes um den Hals über den Zaun sprang, beschloss Miley, es sei Zeit, zu gehen. Sie zog zurück in ihr altes Haus, und ihre Eltern zogen einen Block weiter die Straße hinunter. Hier lebt sie nun mit ihren vier Hunden Happy, Bean, Floyd und Mary Jane, die sie aus dem Tierheim oder von der Straße geholt hat. Die Nachbarschaft ist nicht unbedingt das, was man erwarten würde -sehr suburbian, San Vernando Valley, altes Hollywood. Bob Hope wohnte direkt hinter ihrem Haus. Miley ist ihm nie begegnet, dafür aber seiner Witwe, die dort bis zu ihrem Tod 2011 gelebt hat. „Miss Dolores“, sagt Miley, „war bis zum Schluss eine Partylöwin! Manchmal, wenn ich an ihrem Haus vorbeiging, sah ich drinnen all diese Gestalten, die aussahen wie einem 20er-Jahre-Film entsprungen. Dann fragte ich mich: ,Ist das jetzt echt -oder seid ihr alle Geister?'“

Ihre jetzigen Nachbarn sind etwas moderner. „Gleich da hinten wohnt P. Diddys Kinderfrau“, sagt Miley und zeigt zum Zaun hinter ihrem Pool. Ein Stück die Straße runter wohnt Schauspieler Steve Carell, doch der Vater zweier Unterzehnjähriger scheint nicht der größte Miley-Fan zu sein. „Er schaut mich immer ganz böse an, weil ich so schnell fahre“, gesteht Miley. „Einmal wollte ich rückwärtsfahren und hätte beinahe links und rechts alles mitgenommen, weil er mich total nervös machte, wie er so dastand “ Sie verschränkt die Arme und seufzt gequält. „Ich dachte nur: ,Oh mein Gott, Dan -mitten im Leben beobachtet mich!'“ Sie ist gerade erst aus New York zurückgekommen, wo sie nach den MTV-Awards noch ein paar Tage geblieben ist. Ihr war gar nicht bewusst, welche Wellen ihr Auftritt geschlagen hatte, bis sie die Nachrichten einschaltete. Das berüchtigte Medley aus ihrer Single „We Can’t Stop“ und Robin Thickes „Blurred Lines“ beherrschte die Kabelkanäle, löste eine digitale Jahrhundertflut aus und brachte es auf 161 Beschwerden bei der US-Medienaufsicht. (Spring, Texas: „Sie betatschte das Gesäß einer Frau -ohne zu zögern“; West St. Paul, Minnesota: „Etliche höchst unanständige sexuelle Posen und Gesten, vom Griff in den Schritt, dem dildo-artigen Einsatz eines Schaumstofffingers und Hinternlecken eines Plüschbären“; Dallas: „Pornografischer Tanz von Miley Cyrus. Pfui! Keine Details. ZU EKELHAFT.“)

„Ich glaube“, so Miley, „momentan ist es wichtig, mich nicht selbst zu googeln.“ Sie hatte es für denkbar gehalten, dass der Mittelteil ihrer Performance bei den Medien in Ungnade fällt, aber mit so viel Empörung und Hass hatte sie nicht gerechnet.

„Ehrlich gesagt, das war unsere MTV-Version“, gibt sie zu bedenken. „Wir hätten sehr viel weiter gehen können, sind wir aber nicht. Ich dachte, das ist es, was man bei den VMAs sehen will! Das ist ja nicht die Grammyoder Oscar-Verleihung. Es soll Spaß machen!“

Miley gibt zu, dass ihre Performance mit Thicke ein bisschen -OTon -handsy, also anfassig, geraten war. Und in einem Punkt hat sie recht. „Niemand spricht über den Typen hinter dem Arsch. Überall steht: ,Miley twerkt vor Robert Thicke‘, aber nirgendwo heißt es: ,Robert Thicke reibt sich an Miley‘. Sie reden alle nur über die, die sich bückt. Offensichtlich herrscht hier eine Doppelmoral.“ Besonders belustigend fand Miley die Kritik von Brooke Shields, die in „Hannah Montana“ die Mutter des Teenies spielte und die den VMAs-Auftritt als „verzweifelt“ bezeichnete. „Brooke Shields hat doch schon mit zwölf eine Prostituierte gespielt!“, lacht Miley.

„Amerika hat schon eine merkwürdige Art zu beurteilen, was richtig und was falsch ist“, fährt sie fort. „Ich habe gerade ,Breaking Bad‘ gesehen, das ist so eine Wie-geht-was-Sendung, da haben sie Crystal Meth gekocht. Von denen aus könnte ich also Meth kochen. Aber das Wort ,Fuck‘ haben sie jedes Mal weggepiept. Ich dachte:,Wie jetzt? Die bringen einen Mann um und lösen seine Leiche in Säure auf, aber ,Fuck‘ darf man nicht sagen?‘ Oder als sie bei den MTV-Awards das Wort ,Molly‘ (Slangausdruck für Ecstasy -die Red.) weggepiept haben. Seht euch meine Show dort oben an, aber das Wort ,Molly‘ darf man nicht in den Mund nehmen?“

Miley gesteht, dass sie vor der Live-Sendung ziemlich nervös war. Doch dann bekam sie in ihrer Garderobe Besuch von jemandem, der sie aufbaute. Kanye West hatte ihre Proben gesehen und wollte sie vor ihrem Auftritt noch mal sprechen. „Er kam rein und schwärmte, es gebe derzeit kaum einen Künstler, an den er mehr glaube als an mich“, erzählt sie. „Plötzlich war es ganz still im Raum, und ich witzelte: ,Hey, kannst du das noch mal wiederholen?!'“ Sie lacht. „Das habe ich mir im Geiste immer wieder vorgesagt, und am Ende war ich kein bisschen nervös.“

Nach der Sendung trafen sich Miley und Kanye in einem Tonstudio in Manhattan, um an einem Remix für seinen Song „Black Skinhead“ zu arbeiten. Am nächsten Tag schickte er ihr eine SMS. „Er schrieb:,Ich muss die ganze Zeit an deinen Auftritt denken'“, erinnert sich Miley. „Es ist schön, jemanden zu haben, den du anrufen kannst, um ihn zu fragen: ,Hey, soll ich das anziehen?‘ Oder: ,Soll ich mit diesem Typ ins Studio gehen?‘, ,Meinst du, das ist cool?‘ Dafür sind Freunde schließlich da.“

Miley pfeift auf die Leute, die ihre Performance als Desaster bezeichnet haben. „Ich habe nicht versucht, sexy zu sein“, erklärt sie. Sie weiß, dass die Zunge rauszustrecken nicht hot ist, und dass diese merkwürdigen kleinen Rattenschwänzchen nicht gerade schmeichelhaft sind. Und sie weiß sogar, dass es lächerlich ist, wenn sie sich im Twerking versucht. „Es gab Kommentare wie ,Miley hält sich wohl für eine Schwarze, dabei hat sie den flachsten Arsch der Welt‘. Da kann ich nur sagen, ich wiege 54 Kilo! Glauben die denn, ich würde jetzt bei jedem Auftritt mit herausgestreckter Zunge twerken? Wahrscheinlich mache ich diesen Scheiß nie wieder.“

Wenn es etwas gab, das sie an der Reaktion auf ihren Auftritt getroffen hat, dann der Vorwurf, ihre Performance sei rassistisch oder eine Art Minstrel Show gewesen, denn einige Kritiker behaupteten, sie habe sich einen Tanzstil aus der afroamerikanischen Kultur angeeignet und schwarze Background-Tänzer als Staffage benutzt. „Ich trete nicht mit Tänzern auf, um cooler zu wirken“, stellt Miley klar. „Das sind nicht meine ,Requisiten‘. Das sind meine Freunde.“ Die Idee, sie wolle auf schwarz machen, sei ohnehin absurd. „Ich komme aus einem der reichsten Countys in Amerika“, sagt Miley Cyrus. „Ich weiß, was ich bin. Aber ich weiß auch, was ich gern höre. Da kannst du jedes weiße 20-jährige Mädchen fragen -das ist es, was sie in den Clubs hören. Wir leben im Jahr 2013. Homosexuelle heiraten, Schwarz und Weiß arbeiten zusammen. Ich würde nie über die Hautfarbe meiner Tänzer nachdenken, nach dem Motto: ,Das könnte problematisch werden‘!“

Nach einer Weile bekommt Miley Hunger und Cheyne bestellt Sushi in einem Laden in der Nähe. Wir springen ins Auto, um es abzuholen. Mileys aktuelle Lieblingskarosse ist ein cremefarbener 2014 Maserati Quattroporte, den sie vor ein paar Wochen gekauft hat. Eine Flughafen-Lounge auf Rädern. Als wir durchs Tor fahren, heften sich uns sofort drei Paparazzi an die Fersen, die auf der Straße campiert haben. Vor dem Sushi-Laden hält sie der Einparker in Schach, während Miley im Auto wartet. Neben uns parkt ein schwarzer Range Rover. „Ohne Scheiß jetzt“, sagt Miley, „ich glaube, der ist von Justin Bieber.“ Ich frage sie, ob sie sich oft sehen. „Manchmal“, sagt sie. „Na ja, nicht wirklich. Ich bin nicht viel älter als er und will nicht das Gefühl haben, ihn zu bemuttern. Aber irgendwie tue ich das. Weil ich schon so lange im Geschäft bin und inzwischen erwachsen. Und ich glaube, damit tut er sich noch ein bisschen schwer.“

Wieder zu Hause verschlingt Miley ihr scharfes Tunfisch-Sushi vor dem Laptop. Sie will sich das Video zu ihrer neuen Single „Wrecking Ball“ anschauen, das zu dem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht ist. Auf dem Bildschirm erscheint die nackte Miley auf der Abrissbirne, die an einem Vorschlaghammer leckt. In einer Naheinstellung von ihrem Gesicht vergießt sie eine Träne. „Die ist echt“, sagt Miley stolz. „Mein Hund war gerade gestorben.“ Eine Weile machen wir uns über das Sushi her, dann zaubert Miley eine Dose vegane Brownies hervor, die ihr Koch gebacken hat und die ausgesprochen lecker sind. „Weißt du“, sagt sie mit vollem Mund, „als sie mich fragten, was ich mit dir machen will, war mein anderer Vorschlag Skydiving. Aber das hast du abgeschmettert.“

Ich versichere ihr, dass ich gerade zum ersten Mal davon höre. Sollen wir Fallschirmspringen gehen?“Sollen wir?“, fragt sie zurück. „Ich fänd’s toll “ Cheyne schüttelt den Kopf. „Himmel, nein!““Das wollte ich immer schon mal“, beharrt Miley. „Das wäre so abgefahren. Ich bin dafür.“

Als Kind war Miley den ganzen Tag draußen. „Ich bin bis heute eine halbe Nudistin, weil ich früher nie was anhatte.“ Sie ist mit Geländewagen und Pferden groß geworden. Ein lustiges, kontaktfreudiges und leicht eigensinniges Kind, das sich gleichermaßen für Cheerleading, Limp Bizkit und Hilary Duff begeisterte. Manchmal ging sie mit ihrem Vater auf Tournee, dann hatte sie immer die Aufgabe, nach der Show auf der Bühne die vielen BHs und Höschen einzusammeln. „Wenn ich einen besonders großen fand, sagte ich zu ihm: ,Dad! Ich hab deinen größten Fan gefunden!'“, erzählt sie lachend. Zehn Dollar zahlte er ihr dafür. Ein Jahr lang besuchte sie eine private evangelikale Schule, bis sie rausflog, weil sie entweder a) den Motorroller ihres Lehrers geklaut oder b) dem Rest der Klasse erklärt hatte, was „French Kissing“ ist. Sie ist sich nicht ganz sicher. Mit elf sprach sie zum ersten Mal für „Hannah Montana“ vor. Ihr Vater war eigentlich dagegen, aber am Ende hatte sie ihn überredet. „Ich glaube, er wollte mir jede Art von Enttäuschung ersparen“, entschuldigt sie ihn. „Er wollte mich vor den Härten der Branche schützen.“

Mileys Wandel von Amerikas Sweetheart zu dem, was auch immer sie heute ist, begann vor drei Jahren, als sie nach Detroit ging, um einen Film namens „LOL“ zu drehen. „In Detroit hatte ich das Gefühl, wirklich erwachsen zu werden“, sagt sie. „Es war nur ein Sommer, aber dort fing ich an, in Clubs zu gehen, dort ließ ich mir mein erstes Tattoo stechen. Na ja, nicht das allererste, aber das erste ohne die Erlaubnis meiner Mutter. Das war auf der Eight Mile Road! Ich log den Typen an und sagte, ich sei 18. Ich ließ mir ein Herz auf den Finger tätowieren und versteckte es zwei Monate unter einem Pflaster, damit meine Mom nichts merkte.“

Doch erst vergangenen Sommer in Philadelphia fand Miley wirklich zu ihrem neuen Style. Sie wohnte mit Liam Hemsworth zusammen, der gerade an der Seite von Harrison Ford vor der Kamera stand. „Der beste Sommer aller Zeiten“, sagt Miley. „Kennst du die South Street in Philly? Dort habe ich meine erste Kette gekauft. Für 16 Dollar -sie war nicht echt.“ Sie lacht. „Ich kaufte mir ein Paar Doc Martens. Ich rasierte mir den Schädel. Fuhr mit einem verfluchten Ford Explorer herum.“

Kurz nachdem sie mit den Aufnahmen für ihr Album „Bangerz“ begonnen hatte, räumte sie in ihrem Leben gründlich auf. „Ich brach so gut wie alle Verbindungen ab“, erzählt sie. „Ich trennte mich von meinem Manager und meinem Label. Ich fing ganz von vorn an. Ich hätte ihn wirklich gern behalten, aber ich wusste, dass ich ihm Angst einjagen würde. Sie hätten einfach nicht mehr an mich geglaubt.“ Seitdem beschäftigt Miley den Manager von Britney Spears, Larry Rudolph, aber das Sagen hat immer noch sie. Ihr Leben ist bemerkenswert selbstbestimmt -keine herumlungernden Pressesprecher, keine Aufpasser, die ihr sagen, was sie tun darf und was nicht. „Als Kind war ich nur von Erwachsenen umgeben. Deswegen will ich jetzt überhaupt keine mehr um mich haben. Hart gearbeitet habe ich schon genug. Jetzt will ich meinen Spaß.“ Genau so ein Riesenspaß hat sie auch zu ihrem Video zu „We Can’t Stop“ inspiriert – eine abgefahrene zweitägige Privatparty mit einem Haufen Freunde, die vom Haus eines Kumpels in den Hills an den Strand von Malibu zogen und wieder zurück. Irgendwann schlief Miley am Feuer ein und kokelte ihre Docs an. Gegen Tagesanbruch stiegen dann alle aufs Dach, um sich den Sonnenaufgang anzuschauen. Miley sang die ganze Zeit „This is our house, this is our rules“ umgedichtet in „This is our house, this is our roof“.

Heute wohnt Miley wieder ganz in der Nähe ihrer Eltern. Sie sieht sie etwa einmal die Woche. „Mein Vater ist immer zu Hause“, erklärt sie. „Er sagt, für ihn gibt es da draußen nichts zu tun. Also hängt er den ganzen Tag zu Hause ab und ich besuche ihn.“ Einmal kam Miley in ihren Garten und sah eine schattenhafte Gestalt in den Büschen. „Ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, da sehe ich meinen Vater über den Zaun klettern. Er strahlte mich an:,Sissy! Ich habe einen Geheimweg entdeckt, auf dem ich von meinem zu deinem Haus gelangen kann, ohne über die Straße zu müssen!‘ Darauf ich:,Dad, du hast hundertprozentig gerade irgendwo Hausfriedensbruch begangen.'“

Sie verbringt mehr Zeit mit ihrer Mutter Tish, die laut Miley einst selbst davon träumte, auf der Bühne zu stehen, der jedoch ihre Angst im Weg stand. „Sie hat von ihrem dritten bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr Ballett getanzt, aber sie war so schüchtern“, sagt Miley. „Weil es ihr selbst nicht vergönnt war, wollte sie es für mich. Ich habe auch manchmal Angst, und sie war immer darum besorgt, dass mich das nicht ebenso bremst wie sie.“ Ihre Mutter begleitet sie oft auf ihren Reisen, und es gibt Momente, da ist sie ihr immer noch richtig peinlich. „Am schlimmsten wird es immer, wenn sie mich ,Süße‘ nennt“, sagt Miley. Eine Zeitlang war Mileys Vater entsetzt über ihren Party-Lifestyle. 2011 sagte er in einem Interview gegenüber „GQ“, wenn er die Zeit zurückdrehen und sie davon abhalten könne, Hannah Montana zu spielen, würde er es tun. Aber laut Miley haben sie inzwischen einen guten Draht. „Unsere Beziehung hat sich verändert. Plötzlich höre ich die seltsamsten Geschichten von ihm. Ich hatte zum Beispiel keine Ahnung, dass mein Dad Gras geraucht hat. Ich dachte immer, er sei ein Freak. Dabei war er einfach nur breit.“

Am nächsten Morgen trifft Cheyne unten in der Küche letzte Vorbereitungen für den Ausflug. Oben aus ihrem Schlafzimmer schickt Miley ihm eine SMS: „Ich glaube, ich hab eine Panikattacke.“ Wir wollen tatsächlich Fallschirmspringen gehen. Jeder von uns hat einen Riesenbammel, aber keiner will der Spielverderber sein. „Ich kann nicht glauben, dass wir das wirklich tun“, sagt Miley, als sie runterkommt. Sie trägt ein weißes Tanktop und rote Track Pants und dazu ihre Kleiner-Wicht-Rattenschwänzchen. Unser Ziel ist eine Stadt namens Perris, draußen in der Wüste auf der Strecke nach Palm Springs. Dort liegt Skydive Perris, angeblich einer der besten Sprungplätze des Landes. Der Plan war, früh zu starten, noch bevor die Paparazzi anrücken, doch zwei von ihnen erwarten uns bereits. „Soll ich ihnen sagen, sie kriegen ihr Foto und dann sollen sie sich verpissen?“, fragt Miley. Cheyne nickt und fährt rechts ran. „Hey, ihr kriegt hier und jetzt euer Foto, wenn ihr uns nicht den ganzen Tag verfolgt“, schlägt er ihnen vor und sie gehen darauf ein. „Und dann haut ihr ab?“, bohrt Miley nach. „Yeah.““Versprochen?““Yeah.““Okay.“ Sie springt aus dem Wagen, posiert 30 Sekunden vor einem Müllcontainer, hüpft wieder rein und schon sind wir unterwegs. Cheyne kachelt mit 90 Meilen über die Interstate 210, vorbei an Pomona, Chino und Riverside. Schon bald sind wir im tiefsten Inland Empire, umgeben von Autowracks und Yuccapalmen. „Die Wüste ist echt unheimlich“, sagt Miley. „Hier leben die ganzen Speed-Junkies. Das ist ,Breaking Bad‘ in Echt. Hier verkaufen sie Meth an der Taco-Bude unten im Ort. Meth Country. Meth Town.“

Sie dreht sich zu Cheyne. „Meinst du, wir können das Meer sehen?““Bei klarer Sicht.““Wir sollten öfter solche verrückten Sachen machen“, findet Miley. „Und dann bekomme ich meine eigene ROLLING STONE-Kolumne, jede Ausgabe mit irgendeinem anderen Scheiß von mir.“ Wir sind noch etwa eine Viertelstunde entfernt, als sie durch die Windschutzscheibe auf etwas zeigt. „Oh, mein Gott!“, stößt sie aus. „Da fallen gerade welche vom Himmel!“ Vor uns trudeln rund tausend Meter über dem Horizont mehrere schwarze Punkte zur Erde. „Oh, mein Gott“, sagt sie noch einmal. „Warum dreht sich der Kerl so? Er ist ja kopfüber! Er hat sich auf den Kopf gedreht!“ Wir fahren auf den Parkplatz, und Miley trifft Scott Smith, ihren Lehrer für den heutigen Tag. Scott hat 1978 mit dem Fallschirmspringen angefangen und seitdem über 12.000 Sprünge absolviert. „Ich vertraue Ihnen“, sagt Miley. „Aber ich habe Angst.“

„Nicht schlimm“, tröstet Scott sie. „Es gibt zwei Arten von Erstspringern – die, die Angst haben, und die, die lügen.“ Er legt ihr einen Stapel Einverständniserklärungen zur Unterschrift vor, und Miley amüsiert sich über den Satz, „Fallschirme versagen in seltenen Fällen die Funktion“. Als Kontaktperson im Notfall gibt sie ihre Mutter an, bei Beruf schreibt sie „arbeitslos“.“Wenn ich sterbe“, sagt sie zu Scott, „seid ihr am Arsch.“

Während wir warten, bis wir an der Reihe sind, steht Miley Kette rauchend draußen. Immer wieder kommen Fans herüber, um sich mit ihr fotografieren zu lassen. Die meisten beglückwünschen sie zu den VMAs. „Streck mal die Zunge raus!“, fordert eine Großmutter sie auf. Dann wird es Zeit, die Anzüge anzulegen.

Als wir schließlich eng verkeilt im Flugzeug sitzen, halten sich Miley und Cheyne fest an den Händen. Wir steigen rund 15 Minuten, auf 2.000, 2.500,3.000 Meter. „Wir werden allen Ernstes gleich aus diesem Flugzeug springen“, Miley kann es nicht fassen. Auf knapp 4.000 Metern hält die Maschine die Höhe. Die Tür geht auf, und Miley und Scott rutschen bis an die Kante. Sie lässt ihre Füße raushängen, während unten die Wüste vorüberfegt. Cheyne, der das offenbar gar nicht komisch findet, beißt die Zähne zusammen und funkelt sie wütend an. „Miley fucking Cyrus!“ Aber da ist sie schon draußen.

Sechs Minuten später sind alle wohlbehalten zurück am Boden. „Heilige Scheiße!“, flucht Miley. „Das war der Hammer!“ Sie ruft ihre Mutter an, um ihr zu sagen, dass sie noch lebt. „Das Gute am Skydiving ist, dass dir klar wird, wen du wirklich liebst, – nämlich den, den du danach anrufst.“ Ich frage sie, ob sie schon mit Liam telefoniert hat. „Oh, verflucht!“ Schnell holt sie ihr Handy wieder raus. Zwei Wochen später wird das Paar seine Trennung verkünden.

Auf dem Rückweg nach L. A. brummt Mileys Handy. „Deswegen liebe ich Pharrell“, sagt sie, dann liest sie uns die SMS vor, die er ihr geschickt hat. Sie hat mindestens 1.000 Zeichen, Miley scrollt stundenlang.

„Mit den VMAs wollten Gott oder das Universum dir nur zeigen, welche Kraft in allem steckt, was du machst“, heißt es an einer Stelle. „Das ist wie mit Uran – es hat die Kraft, Leben zu vernichten oder ganze Länder mit Strom zu versorgen. Jetzt, wo du deine Kraft gesehen hast, meistere sie.“

Wieder zu Hause, geht Miley nach oben, um sich umzuziehen. Als sie in einem punkigen schwarzen Lederrock und schweren schwarzen Chanel-Boots zurückkommt, sind zwei Freunde von ihr aufgetaucht: Cheynes Mitbewohner Thom, ein australischer Serienschauspieler und seine Schmuckdesigner-Freundin Janelle. Es geht ins Beacher’s Madhouse im Hollywood Roosevelt Hotel, den garantiert besten Club von L. A. Wir quetschen uns in einen Geländewagen und Miley prüft auf dem Beifahrersitz ihren Lippenstift. Unter Cheynes Führung marschiert unsere Truppe an der Warteschlange in der Lobby vorbei und wird in eine 1-A-Ecknische eskortiert, die Miley den „Vogelkäfig“ nennt.

Der Veranstalter begrüßt sie mit Küsschen und schickt eine Flasche Wodka herüber. Im Club läuft eine durchgeknallte Live-Action-Varieté-Show. Die Szenerie wirkt wie aus einem feuchten Traum eines Krawall-Comedian: Es gibt einen alten Stripper in Leder-Hotpants, in Netz gehüllte Gogo-Dancer und einen Miniatur-Psy, der den Gangnam Style tanzt. Amazon Ashley, die zwei Meter große Burlesque-Tänzerin, der Miley bei den VMAs den Hintern küsste, kommt bis auf die Nippel-Hütchen barbusig zu uns rüber und drückt Miley überschwänglich. Zu „I Believe I Can Fly“ wird ein deprimiert aussehender Umpa-Lumpa, der mit einem Haken hinten an der Latzhose an einem Kabel befestigt ist, bis unter die Decke gezogen und über einem Tisch mit Mädchen abgelassen, wo er eine Flasche Schnaps serviert.

Wir bleiben, bis der Club schließt, und noch ein bisschen länger. Miley verbringt die ganze Nacht auf einer Bank tanzend und Malibu trinkend. Danach ordert Cheyne mehrere Luxustaxis, und rund ein Dutzend von Mileys Freunden machen sich darin auf den Weg zum Haus ihres Kumpels Ryan in den Hollywood Hills. Die Afterparty erinnert stark an Szenen aus dem „We Can’t Stop“-Video: Ein Haufen hipper, junger Menschen beim Feiern in einem viel zu mondänen Haus! Plötzlich wird Miley ganz aufgeregt. „Das ist genau das Haus!“, sagt sie. „Das ,This is our house, this is our roof‘-Haus. Das ist hier! Und das sind die Freunde!“ Sie kann nicht aufhören zu lächeln. „Wir leben dieses Leben wirklich!“

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