„Kein Zurück“: Wer befreit Stephen King endlich von Holly?

Holly Gibney ist in zu vielen Stephen-King-Romanen unterwegs. Es wirkt so, als würden die Geschichten ihrer Figur angepasst werden, nicht umgekehrt.

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„Kein Zurück“: Wer befreit Stephen King endlich von Holly?

Stephen King hat in den vergangenen elf Jahren 15 Romane und drei Kurzgeschichtensammlungen veröffentlicht. Sechs dieser Romane und eine Novelle widmen sich den Abenteuern der Ermittlerin Holly Gibney (in „Mr. Mercedes“ 2014 als zweite Hauptfigur eingeführt). Eine außerordentliche, nie dagewesene King-Quote. Ein Roman heißt sogar „Holly“.

Noch nie wurde allerdings eine Umfrage erhoben, wie gern die Leser des bald 78-Jährigen die Erlebnisse der neurotischen, aber hochintelligenten Frau überhaupt lesen wollen. Vielleicht sollte King das selbst mal in Auftrag geben. Das Ergebnis könnte ihn überraschen. Vorsichtig formuliert, gehören die Holly-Geschichten, das zeigt der Kritikerspiegel, nicht zu den populärsten des Horror-Schriftstellers. Gott bewahre: In „Kein Zurück“ geben sich die Leute sogar schon Fistbumps und drohen mit „Holly Forever!“

Holly Gibney: Vielschichtig oder überstrapaziert?

Seit „Mr. Mercedes“ steckt Stephen King viel Liebe in die Konstruktion seines neuen Lieblingsgenres, den Thriller (zu den Holly-Romanen gesellt sich „Billy Summers“ ohne Holly). In ihnen kommt immer weniger Übernatürliches vor, wie in „Holly“ aus dem vergangenen Jahr und nun das Lee-Child-artig betitelte „Kein Zurück“. „Der wahre Horror ist das echte Leben“ ist sein seit einigen Jahren gültiges Motto. King ist entsetzt von der Politik seines Landes und den Psychopathen, die die Neocons hervorgebracht haben. Sowohl unter den Wählern, als auch unter denen, die die Wähler regieren. Die andere Hälfte seines Outputs bietet totalen Eskapismus: PSI-begabte Kinder („Das Institut“), Märchen („Fairy Tale“) und Märchen-Märchen („Der Talisman 3“, für 2026 angekündigt).

Einmal ist Stephen King auf X mit J.K. Rowling aneinandergeraten und kassierte dafür einen fairen Shitstorm, weil man Frauen eben nicht als Zicken bezeichnen sollte. Das ist einige Jahre her. Seitdem versucht er sich als Vorkämpfer für Frauenrechte. Das sollte man ihm nicht absprechen. Er meint es aufrichtig. Aber Kings Frauenbild bleibt, wie ROLLING STONE bei anderer Gelegenheit schon beschrieb, altmodisch und unbeholfen.

Holly „Bäh!“ Gibney ist eine Frau mittleren Alters, deren Ängste bei King Ausdruck in mal kindlichem, mal pubertärem Verhalten finden. In „Kein Zurück“ stößt sie bei ihren Ermittlungen auf Sexseiten. Neuland für sie, Pornhub ist ihr ein Fremdwort. Liebe aber nicht. Bei anderen Gelegenheiten habe sie eine Website namens „Passionate Kisses“ besucht, weil Sexszenen dort wenigstens ein romantischer Touch verleihen werde. Solche Sachen denkt Stephen King sich für Holly Gibney aus. Blümchen. An anderer Stelle merkt er an, dass ein Mann nicht den „Male Gaze“ auf eine Frau richte – was ja löblich sei. Das alles wirkt wie reines Buzzword-Dropping.

Kings neuer Realhorror: Von MAGA bis Mörder

In „Kein Zurück“ bleibt King also seinem „Realhorror“-Prinzip aus „Holly“ treu. Diesmal widmet er sich zwei Killern. Der eine ist ein Schizophrener, der das amerikanische Rechtssystem pervertieren will. Donald Gibson war Geschworener einer Schöffenjury, die er bewusst dazu brachte, einen unschuldigen Mann hinter Gittern zu bringen. Was nicht schwer war, weil die anderen Juroren müde waren, nach Hause zu ihren Familien wollten und ein gemeinsames Urteil ersehnten, das nichts mit der Beweislage zu tun haben muss. Eine ähnlich starke Kritik am US-Justizwesen mit seinen überforderten Schöffenjurys formulierte Clint Eastwood mit seinem jüngsten Film „Juror No. 2“.

Donald Gibson will nun Unschuldige töten, weil der unschuldig Verurteilte sich im Gefängnis das Leben nahm. Für Gibson die „einzige vollkommene Form von Sühne. Weil dann die Schuldigen leiden.“ In Wirklichkeit leider Gibson unter dem frühen, gewaltsamen Tod seiner Mutter.

„Die Religionen dieser Welt sind für allerhand Scheiß verantwortlich“, heißt es an einer Stelle. Stimmt natürlich. Der zweite Killer ist ein religiöser Fanatiker und Abtreibungsgegner (aktuelles amerikanisches Thema!), der unter einer Persönlichkeitsstörung leidet. Mal ist er Christopher, mal Chrissy, seine verstorbene Schwester. Dafür zieht sich Christopher Frauenkleider an und eine Perücke auf den Kopf und verstellt die Stimme. Christopher kennt den Begriff Persönlichkeitsspaltung. Er bezeichnet sich selbst aber im positiven Sinne als „Besessener“. Auch dieser Killer hat Mommy Issues, dazu Daddy Issues. Sein Priester fürchtet den Deep State und sieht sich als Rebell und Nachfolger der Waco-Kirche.

Trump-Bashing ein King-Standard

Im Horror-Genre haben geistesgestörte Transvestiten seit jeher einen exotischen Thrill geboten („Psycho“, „Dressed To Kill“, „Das Schweigen der Lämmer“). Nur wird durch diesen Showeffekt eine Gruppe von Menschen stigmatisiert, die um Akzeptanz kämpfen. Stephen King könnte moderner sein. Dass es der Priester einer Sektiererkirche war, der Christopher in sein Identitätsschicksal und diesen Irrsinns-Kreuzzug getrieben hat, macht diesen Versuch einer Psychopathogenese umso gedrechselter.

Zielscheibe der zwei Killer wird die „Our body, our choice“-Aktivistin Kate, die Stephen King überraschenderweise als Egoistin darstellt. Eine angstlose, aber auch empathielose Frau, die bei öffentlichen Veranstaltungen ihre Mitarbeiterin für die gute Sache in Gefahr bringt, wobei sie selbst sich auch den MAGA-Leuten entgegenstellt. Erstaunlich, dass King den Namen seines Erzfeindes Donald Trump diesmal nur ein einziges Mal im Roman erwähnt (mit Verweis auf das Attentat mit dem Streifschuss am Ohr). Dabei ist Trump-Bashing ein King-Standard seit dessen erster Präsidentschaftswahl 2016.

Ideologie über Spannung

Dass beide Mörder auf spektakulär unspektakuläre Weise ihr Ende finden, ist noch zu verschmerzen. Der Zeitpunkt, wann sie sterben, wie und durch wen, gewichtet auch ihre tatsächliche Gefährlichkeit als Antagonisten. King schreibt selbst im Nachwort, dass die Fertigstellung von „Kein Zurück“ nicht leicht war, weil er mit den Folgen einer Hüft-Operation zu kämpfen hatte. Womöglich fiel ihm kein besseres Finale ein. Er war erschöpft. Aber das Muster bleibt dasselbe. Kings Kampf gegen die Politik der Republikaner führt in zu vielen Romanen dazu, dass Haltung über Inhalt steht: „Das Institut“, „Sleeping Beauties“, „Under The Dome“. Voller Sinnbilder, die größer sind als die Geschichte. Oder, wie es „Kein Zurück“-Figur Kate unterstellt wird: Ihre Lesereise ist eher eine Ideologiereise.

Das schwache Ende bietet nicht die größte Erzählschwäche Stephen Kings. Es gibt zwei Schwächen, die schwerer wiegen. Schwäche eins: zu wenige tote Helden. Seine besten Romane zeichnet eine „Kill your Darlings“-Philosophie aus. Protagonisten, die sterben, oder, wenn nicht, schwer gezeichnet davonkommen. Billy Summers, Paul Sheldon, Arnie Cunningham, Larry Underwood, Louis Creed, James Gardener, Johnny Smith, Ben Mears, Johnny Marinville und Jack Torrance. Mit zunehmendem Alter lässt Stephen King aber sehr häufig Gnade walten.

Seine Storys werden dadurch nicht besser. Es braucht das wichtige Opfer. Allein deshalb, damit ein Protagonist Wut und Motivation erhält – „Duma Key“, „It“ und „The Stand“ führen das vor, davon profitiert der dritte Akt. Wenn aber in keinem der zig „Holly“-Romane jemand stirbt – Barbara nicht, Jerome, Pete und Izzy nicht, Holly eh nicht –, dann bleibt das einfachste Wunschbedürfnis des einfachsten Bettlektürelesers unbefriedigt: Spannung. King kann nicht loslassen, aber er sollte langsam mal loslassen. Er muss einen Darling killen. Das Holly-Ensemble bleibt sonst blass.

Dazu passt auch, dass King mittlerweile jede einzelne seiner King-Verfilmungen für außergewöhnlich gut hält. So schlecht sie auch sind. Auf Twitter ist er der versöhnliche Senior. Die Neu-Verfilmung von „Salem’s Lot“ – unterschätzt, „give it a try!“. „The Monkey“ – „verrückt“. Die Mike-Flanagan-Soße, die Regisseur Mike Flanagan über jeden King-Stoff kippt (der Chrome-Look von teuren Netflix-Eigenproduktionen, schwache Dialoge, flache Ausarbeitung von Charakteren), zuletzt auf „The Life of Chuck“, in dem Mark Hamill wirkte wie ein älterer Schauspieler, der einen noch älteren Mann spielen muss – „herausragend“. Was waren das noch für Zeiten, als King sich mit Stanley Kubrick anlegte oder nicht fassen konnte, dass die Verfilmung von „The Shawshank Redemption“ besser war als seine zugrunde liegende Novelle.

Holly bleibt erstaunlich gelassen in ihrem Leben in einer übernatürlichen Welt

Schwäche zwei von „Kein Zurück“: Holly Gibney ist in zu vielen Romanen unterwegs. Es wirkt so, als würden die Geschichten ihrer Figur angepasst werden, nicht umgekehrt. Ein ungeschriebenes Gesetz in allen King-Storys lautet, dass sich seine zwei Erzählwelten – realistische Storys und übernatürliche Storys – nie vermengen, sofern er über eine Figur in einer zweiten Geschichte schreibt. Die Figuren aus „It“, die auf den Außerirdischen Pennywise trafen, könnten niemals auf Roger Klerke aus „Billy Summers“ treffen. Zwei verschiedene Welten. Ein anderer Fall zumindest geht: Realismus mit Übernatürlichem innerhalb derselben Geschichte vermengen. Mit den beiden Vic-Trenton-Geschichten „Cujo“ und „Rattlesnakes“ gelang King das Kunststück, Realismus und Magie zu vereinen. Und wer die übernatürliche Hölle überlebt hat, wie Danny Torrance in „The Shining“, ist, wie Danny Torrance in „Doctor Sleep“, hochgradig traumatisiert.

Holly Gibney aber ist Stephen Kings erste Protagonistin, die es nach zwei Konflikten mit dem Übernatürlichen – Brady Hartsfield, Chet Ondowsky – ausschließlich mit Normalo-Mördern ohne übermenschliche Fähigkeiten zu tun bekommt. Die Konfrontation mit Dämonen hinterließen bei ihr anscheinend keinen Schrecken für die Ewigkeit. Holly bleibt erstaunlich gelassen in ihrem Leben in einer Welt, die doch eine andere, unerklärliche Ebene zu haben scheint.

Holly Forever?

Solche Menschen kann es eigentlich nicht geben. Wer dem Bösen gegenüberstand – diese Regel hatte King zuvor nie gebrochen – bleibt verwundet und hält sich von allem, was suspekt wirkt, fortan fern. „Holly hat in die Mündung einer geladenen Waffe geblickt, und mindestens zweimal hat sie Kreaturen gegenübergestanden, für die es keine wissenschaftliche Erklärung gab“, schreibt King nun. „Was ihr fehlt, ist also nicht Mut, sondern das elementare Selbstwertgefühl, das Rückgrat, das es braucht, Leute zur Rede zu stellen, die andere verletzt haben.“ Wirkt das glaubwürdig? Eigentlich dürfte Holly nie wieder Angst empfinden. Sie hatte in der Vergangenheit einen Gestaltwandler zur Strecke gebracht, der sich vom Blut seiner Opfer ernährt. Und verzweifelt nun an MAGA-Bierbäuchen, die ihrer Klientin Beleidigungen zurufen.

Stephen King: „Kein Zurück“

Aber Holly schreckt auch nicht zurück. Für ihre äußerst freiheitlichen Titelübersetzungen von King-Büchern sind deutsche Verlage bekannt. „Kein Zurück“ heißt im Original „Never Flinch“, also „niemals zurückschrecken“. Und darum geht es doch vielmehr: um Überzeugungstäter. Nicht um Menschen, die nicht mehr zurückgehen könnten, auch wenn sie es wollten.

Heyne