Stephen Kings „Es“: Warum der Roman nicht ganz so groß ist, wie wir ihn uns wünschen

Kings meistgeliebter Roman: Sieben Freunde aus dem „Klub der Verlierer“ besiegen den Kinderfresser aus der Hölle. Die Lektion im "ultimativen Horror" kann King hier, wo es wenig auf Fantasie ankommt, stattdessen auf Verstümmelung und Mord, nicht erteilen.

Dieses Buch, das sich über 30 Jahre erstreckt, ist wie eine Ray-Bradbury-Kindheit im Blutrausch; mit einem Blick hinter die Fassade kleinbürgerlicher Städte, und Entdeckungen der jungen Menschen, an die kein Erwachsener glauben will. Deshalb müssen die Kids ihr Schicksal in dieser durch und durch verpesteten Stadt (für King war das fiktive Derry Sinnbild alles Schlechten) selbst in die Hand nehmen. Einer der Jungen will den von „Es“ ermordeten kleinen Bruder rächen. Der wollte im Regen mit seinem Papierboot spielen, man fand ihn, einen Arm abgerissen, vor einem Kanalisationsschacht.

 

Stephen King geht ins Kino: „It“ in Bangor, 10. September 2017

 500 Seiten zu wenig

Die Faszination an „It“, das in Sonder-Editionen immer wieder neu aufgelegt und in den Kritikerlisten als Höhepunkt in Kings Schaffen bezeichnet wird, ist ungebrochen. Sein bis dahin dickstes Buch, King arbeitete seit 1982 daran, markierte auch das Ende seiner bis dato längsten Pause (fast zwei Jahre nach „Thinner“), und erschien – wie verantwortungslos müssen die Verantwortlichen eigentlich sein – auf Deutsch um nahezu 500 (!) Seiten gekürzt. Die Jahrzehnte später veröffentlichte komplette Übersetzung brachte es dann auf mehr als 1500 Seiten.

 Die geniale Betitelung (gibt es einen besseren Titel?) lässt Raum für alle Assoziationen. Was aber machte die Klasse des Buchs aus? Zum einen wollte King sich vom klassischen Horrorroman nach „It“ verabschieden, mehr noch: das letzte Wort haben, deshalb baute er etliche Monster in die Erzählung ein. „It“ ist ein Gestaltwandler: Werwolf, Mumie, Vampir – alle paradieren hier.

„It“ in der 2017er-Version

„It“ beinhaltet zwei Zeitlinien, 1958 sowie 1985: Das namenlose Wesen verfällt alle 27 Jahren in den Tiefschlaf, erste Spuren des Monsters finden sich in der Chronik Derrys, jener verteufelten Stadt, ab dem 14. Jahrhundert. Als Kinder wie als Erwachsene  versuchen die sieben Mitglieder des „Clubs der Verlierer“ den Kinderfresser zu töten. Sie finden ihn: in der Kanalisation.

Am besten sind die Passagen, in denen tatsächlich die Freuden des Sommers beschrieben werden,  hier wird King zum Heimatschrifsteller seines  geliebten Maines, in dem fast alle seiner Erzählungen spielen. Das Versteck der Kinder im Wald, die selbst gebauten Dämme, das selbst gekaufte Eis in den Ferien. Der erste Kuss, die Schmetterlinge im Bauch. Obwohl King mit Henry Bowers einen zusätzlichen – menschlichen – Antagonisten ins Spiel bringt, mutet dessen Action und die seiner Gang geradezu humoresk an; wie in einem Katz-und-Maus-Spiel erwischen Bowers und Freunde immer irgendwie einen des „Klubs“ auf der Straße und jagen sie, bis das Blut fließt. Und die Eltern sind hilflos.

 Schlimmer als Ronald McDonald

Wer auch nur ein wenig Fantasie besitzt, muss sich vor Clowns gruseln, auch diese Assoziationen hat King mit „It“ noch verstärkt; auch wenn Ronald McDonald schon gute Vorarbeit geleistet hatte. Wirkungsvoll sind Pennywises gegen dem Wind fliegende Ballons oder die Kinderstimmen aus dem Ausguss. Eine der vielen Kampfszenen ist gerade deshalb gelungen, gerade weil der Leser weiß, was ihn erwartet – was gibt es Spannenderes als Horror, der sein Versprechen tatsächlich einlöst? Beim Einbruch in ein verlassenes Haus hören die Kinder es sofort vom Dachgeschoss aus rumpeln, etwas flitzt die Treppen runter, und da steht er auch: der Werwolf.

Die anschließende Verfolgungsjagd – Kinderfahrrad gegen Lykanthrop – zählt zum Spannendsten, was King zu Papier gebracht hat. Dass es sich bei dem Drahtesel namens „Silver“ um ein liebevoll gepimptes Stück Kindheitsfreude handelt, verstärkt die Kraft dieser Szene, die ein gutes Ende nimmt, noch.

Szene aus dem Trailer von „Es“
Szene aus dem Trailer von „Es“

 Viel zu wenig wird in den Besprechungen des Romans die Mythologie von „Es“ beachtet. Es handelt sich nicht um ein Fabelwesen, dass der Teufel zur Plage der Menschheit erschaffen hat. „Es“ ist ein Außerirdischer, der vor Jahrtausenden mit einem Komet auf der Erde gelandet und danach in Tiefschlaf verfallen ist. Die Kinder machen während einer indianischen Seancé diese Entdeckung, die zu den größten Überraschungen der Geschichte zählt.

Aber nicht alle Schocker sind gut gelungen. Das Problem sind die Monster-Charaktere an sich: Wer hat heute noch Angst vor Mumien, Werwölfe, Vampire?. King setzt dazu auf einen schnell abnutzenden Ekel-Faktor (Heuschrecken in Glückskeksen, Maden in verfaulenden Gesichtern). Irgendwo taucht, King wollte es wohl wirklich wissen, auch sein durchgedrehtes Mörder-Auto Christine auf. Später setzt sich „Shining“-Koch Dick Hallorann gegen rassistische Brandstifter zur Wehr.

Die Lektion im „ultimativen Horror“ kann King hier, wo es wenig auf Fantasie ankommt, stattdessen auf  Verstümmelung und Mord, nicht erteilen. Am Ende bedient sich King eines Kniffs, den er oft, vielleicht zu oft anwendet: Er lässt Derry, so wie so viele seiner missratenen Städte, wie Salem’s Lot oder Haven, durch einen Sturm, Gottes gerechte Strafe, absaufen, untergehen, verbrennen.

Die Schildkröte wird zum Helfer

Das Ensemble des „Klubs der Verlierer“ ist sicher Kings aufwendigstes seit der Helden-Mannschaft aus „The Stand“, aber es kommt nicht ohne Klischees aus. Es gibt den dicklichen, hoffnungslos verliebten Ben; die rothaarige, unbezwingbare, von ihrem Vater misshandelte Beverly;  den Asthmatiker Eddie, der an dem Monster wachsen und sein Atemgerät bezwingen soll; die Hauptfigur Bill – „Stotter-Bill“, der natürlich sein Stottern besiegen muss. Mit der im Schluss-Spurt eingeführten, gottähnlichen „Schildkröte“ als größten Feind von „Es“, drosselt King das Tempo gefährlich ab. Während Bill in den Kampfmodus wechselt, philosophiert die Amphibie über den Kosmos, will ihm damit aber eigentlich Ratschläge erteilen.

Auf den letzten Seiten kriegt King uns dann doch wieder – und es ist zum Weinen. Die Überlebenden aus dem „Klub der Verlierer“ werden älter, ziehen in alle Himmelsrichtungen und fangen an zu vergessen. Zu vergessen, dass sie einst Freunde waren, sie vergessen einander, und sie vergessen, dass sie einst die schlimmste Kreatur des Universums getötet und damit unzähligen Kindern, die später an die Reihe gekommen wären, das Leben gerettet haben. Sie wissen nicht mehr, was einst war.

 King geht dann als Erzähler in den auktorialen Modus und stupst uns an: Das, was die „Verlierer“ erleben, ist wie das Aufwachsen. Man kann die Kindheit nicht zurückholen, im Gegenteil, die meisten Erinnerungen verschwinden. Leider auch die schönen. Das ist vielleicht der härteste, sicher der ehrlichste Schluss, den King uns hier hätte präsentieren können.

 Bill steigt noch ein letztes Mal auf sein Fahrrad „Silver“, das er als Kind so geliebt hatte. Er weiß gar nicht mehr, warum. Aber rettet damit ein Leben.

Scott Eisen Getty Images for Warner Bros.
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