Morrissey live in Berlin: Große Gefühle – aber auch ein Hang zur Gewaltpornografie

Im Berliner Tempodrom lässt sich Morrissey von seinen Fans feiern. Der krebskranke Sänger ist gut bei Stimme, seine Inszenierung aber schießt gelegentlich übers Ziel hinaus.

Über die Bühne ist ein Laken gespannt, darauf projiziert: ein Standbild aus Carl Theodor Dreyers Stummfilmklassiker “Die Passion der Jungfrau von Orléans”. Eine Nahaufnahme von Renée Falconetti als Johanna, in gestochen scharfem schwarz-weiß ihre müden Augen. Großartig. Über die Boxen läuft leise Yoko Ono, dann Nico, dann die Lesung eines Maya-Angelou-Gedichts. Es ist halb neun, das Berliner Tempodrom ist ausverkauft, die 4.000 Plätze haben sich mittlerweile gefüllt.

Aber die Lichter gehen nicht aus, noch nicht, erst einmal wird Johanna auf der Leinwand von den Ramones verdrängt. Wir sehen einen Spätsiebziger-Fernsehauftritt der New Yorker, der Clip wurde wohl von YouTube heruntergeladen, so scheppert zumindest die Tonspur. Auf die Fab Four des Punk folgen Videos von Alice Cooper, den Sex Pistols, den New York Dolls, die bekannten Idole Morrisseys also, auch Joe Dallessandro in Andy Warhols “Flesh”. Interessanterweise ebenfalls ein semi-professionell wirkendes Musikvideo einer jungen HipHop-Gruppe. Wer hätte gedacht, dass Morrissey etwas für Hip-Hop übrig hat?

 

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Personenkult mit ausgestrecktem Zeigefinger

Schließlich fällt der Vorhang und die Band betritt die Bühne. Ein kurzes Schlagzeug-Solo wird mit einem Gong-Schlag beendet; mit einem buchstäblichen Gong-Schlag wohlgemerkt, es steht allen Ernstes ein Gong auf der Bühne. Na gut, der Gong wird also geschlagen – gerüchteweise die einzige Methode, Morrissey zu wecken – und es geht endlich los. Gleich mit einem Hit: “Suedehead”. Ein starker erster Song. Vorne singen die ganz ergebenen Fans, die zudem jedes Wort mit ausgestrecktem Zeigefinger affirmieren.

Der Personenkult um Morrissey ist, zumindest in den vorderen Reihen der Manege, immer noch bemerkenswert, und er kokettiert mit seinen Jüngern, wirft ihnen laszive Blicke zu, ergreift ihre Hände, lässt Hüftschwünge erahnen. Seine gesundheitlichen Probleme – Ende 2014 begab er sich wegen einer Krebserkrankung in Behandlung – sind ihm an diesem Abend nicht anzumerken. Seine Stimme, die ohnehin wunderbar altert, ist stark wie immer, er singt sauber und charaktervoll, bis zum letzten Lied, “Irish Blood, English Heart”, mit dem er den Abend nach gut eineinhalb Stunden beschließt.

 

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Smiths-Songs spielt Morrissey übrigens nur zwei: “Meat Is Murder” und “What She Said”. Der Verzicht auf die Hymnen und die Weigerung, eine rückwärtsgewandte Hitparade auf die Bühne zu bringen, sprechen natürlich für Morrissey und seinen Glauben an die Relevanz und Qualität seiner gegenwärtigen Musik. Ein wenig schade ist es trotzdem, die ganz großen Melodien nicht gehört zu haben. Aber das nur nebenbei.

 Erst Hitler, dann Bush und Blair?

Ein tatsächliches Ärgernis ist nämlich Morrisseys Entscheidung, als Begleitung für das Lied “Ganglord” eine Montage aus Videomaterial zu nutzen, das Fälle von (tödlicher) Polizeigewalt gegen Afroamerikaner in unzensierter Grausamkeit zeigt. Er hält das womöglich für ein gehaltvolles politisches Statement, für mutige, subversive Solidarisierung – tatsächlich verkommen die Bilder in diesem Kontext zu billiger Gewaltpornografie.

Ähnlich flach die wenigen Worte, die er später an die Zuschauer richtet, wie zum Beispiel: “Deutschland hat bekanntlich einen gewissen Herrn Adolf, dessen Namen ich nicht nennen werde, auf die Welt gebracht. Aber, macht euch nichts draus. Amerika hat George W. Bush, und das Vereinigte Königreich hat Tony Blair.” Beim nächsten Lied steht auf der Leinwand: United King-dumb.

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