„Dann zog er seine Hose aus“: So läuft sexuelle Belästigung in der Musikindustrie – Bericht von Viv Albertine

Ein Erfahrungsbericht über sexuelle Belästigung durch die Mächtigen (Männer) der Musikindustrie – von der Ex-Gitarristin der Punk-Band The Slits.

1.

Wie viele Übergriffe durch mächtige Männer aus der Musikindustrie gab es gegenüber den Slits in den 70er- und 80er-Jahren? Keine.

Leitende Mitarbeiter von Plattenfirmen waren nur dann bereit, sich mit den Slits zu treffen, wenn wir von einem Mann begleitet wurden, der uns geschäftlich vertrat. Ältere Musikjournalisten weigerten sich, uns zu interviewen, wenn kein Aufpasser dabei war. Wenn ich diesen einflussreichen Männern in die Augen schaute, sah ich keine Begierde, ich sah Angst. Ich sah Unsicherheit. Ich sah Zorn. Und wenn sie uns anschauten, sahen sie ein vierköpfiges, dreadlockiges, fauchendes Frauenmonster. Welcher Kerl will schon Medusa ficken? Sie wussten, dass eine Slit nach körperlichen Zudringlichkeiten nicht den Mund halten würde. Das Risiko war es nicht wert. Statt uns zu ficken, wollten sie etwas anderes: uns ein für allemal fertigmachen.

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Unser erstes großes Interview mit der Musikzeitung „NME“ wurde anlässlich der Veröffentlichung unseres Albums „Cut“ von dem Journalisten Nick Kent geführt. Er wollte immer nur mit jeweils einer von uns Slits sprechen und bestand auf einer von ihm vorgegebenen Reihenfolge. Ich war als ­Letzte dran, musste bis zum Ende eines langen Tages draußen bleiben. Kaum hatte ich den Raum betreten, zog Kent seine Lederhose aus. Stand nackt bis auf die Unterwäsche da – kein schöner Anblick. Ich hielt das nicht für einen sexuellen Akt, ich verstand es als Hirnfick. Er tat es, um mich zu verunsichern. Wir waren in seiner Einzimmerwohnung. Ich hockte auf seiner Bettkante. Wenn wir uns heute begegnen, dann relativ freundschaftlich. Er hat vergessen, was er gemacht hat. Ich nicht.

Kein direkter Blick in die Augen

Männer, nicht nur die Vertreter der Plattenfirmen und die meisten Journalisten, sondern ­alle – mit Ausnahme einiger weniger Gleichgesinnter aus der Punk-Bewegung – sahen den Slits nie direkt in die Augen. Die Soundleute nicht, die A&R-Männer nicht, die Roadies nicht und auch nicht die Typen an den Mischpulten. Wenn wir auf Tour waren und mit dem Soundtypen, dem Mischer oder dem Veranstalter (damals ausnahmslos Männer) sprechen wollten, sahen sie sich im Saal oder den Veranstaltungsräumen um, suchten den nächstbesten Mann und richteten ihre Fragen an ihn. Dabei spielte es keine Rolle, ob der einzige andere anwesende Mann der Barmann, ein Roadie oder sonst ein Typ war, der zufällig an der Hintertür vorbeikam – mit ihm sprachen sie über unseren Sound, unser Konzert und unsere Songs. Wir redeten trotzdem weiter, erklärten ruhig und beharrlich, welchen Sound wir uns vorstellten: „lauter Bass, viel Treble auf der Gitarre, die Stühle alle nach hinten etc.“. Aber sie wollten uns weder anschauen noch antworten. So war das während der gesamten fünf Jahre, die wir live spielten, von 1976 bis 1981.

The Clash hatten uns eingeladen, auf ihrer „White Riot“-Tour im Vorprogramm zu spielen. Unterwegs waren wir die einzige Frauenband neben vier Männerbands, aber nur die Slits bekamen in allen Hotels Hausverbot, weil den Geschäftsführern nicht gefiel, wie wir aussahen (sie riefen den jeweils nächsten an und rieten ihm, uns ebenfalls nicht reinzulassen). Jede Nacht nach den Auftritten mussten wir durch fremde Städte laufen und uns eine Pension suchen, in der man bereit war, uns aufzunehmen. Und jeden Morgen waren es die Slits, die der Fahrer nicht in den Tourbus einsteigen lassen wollte, weil auch ihm unser Aussehen nicht gefiel – erst mit Schmiergeld ließ er sich überreden.

The Slits (1987)

Mit der Zeit versammelten die Slits ein Team von Leuten um sich, die uns wie Menschen behandelten und uns anschauten, wenn wir mit ihnen redeten. Immer wenn wir es uns leisten konnten, nahmen wir unsere eigenen (oft weiblichen) Roadies und Mischer mit. Dennis Bovell und Adrian Sherwood haben unseren Sound gemischt, sogar in Amerika, und auch wenn wir es uns nicht leisten konnten. Sie wurden bezahlt, wir nicht. Aber wenigstens fühlten wir uns wohl und hatten einen tollen Sound.

Die Techniker der BBC bei der Radiosendung von John Peel, unserer allerersten Aufnahmesession, sahen uns nur kurz an und weigerten sich dann, für uns zu arbeiten. Inzwischen sind die Sessions legendär. Die Slits waren bei allen britischen Radio- und Fernsehsendern verboten, unsere Platten wurden nie gespielt, und anders als die männlichen Punk-Bands (von denen die meisten scheiße waren) haben wir nie Tantiemen erhalten oder mit unseren Platten Geld verdient. Der Vorschuss von unserer Plattenfirma ist erst jetzt allmählich abbezahlt, 40 Jahre nach der Veröffentlichung von „Cut“.

Opfer werden sorgfältig ausgesucht

Wir haben versucht, uns gegen Ausbeutung zu schützen, indem wir unsere Plattenfirma sehr sorgfältig ausgewählt und bei dem musikalisch anspruchsvollen Independent-Label Island Records unterschrieben haben. Ein Vertrag mit einem Major-Label wäre für uns nicht infrage gekommen. Aufgrund einer Laune des neuen A&R-Mannes wurden wir nach der Veröffentlichung unseres Albums bei Island gefeuert (inzwischen findet es sich oft in Musikmagazinen unter den Top 50 der besten Alben aller Zeiten). Er hat zuerst die Musikpresse informiert, bevor er es uns gesagt hat. Dass unser Label sich von uns trennt, bekam ich von einem Journalisten mitgeteilt, der mich dabei ganz genau beobachtete und anschließend über meine Reaktion schrieb. Und der damals bei Island als Hausfotograf tätige Dennis Morris hat versucht, mich bei den Slits rauswerfen zu lassen (fast hätte er es geschafft), weil ich etwas dagegen hatte, dass er uns für die Coveraufnahmen unseres Albums in enge rosa Gummikleider steckt. Aber nein, wir wurden nie von Männern in Machtpositionen sexuell missbraucht.

Männer in Machtpositionen, die Menschen sexuell missbrauchen, suchen sich ihre Opfer sehr sorgfältig aus. Die Slits sind immer zusammengeblieben. Wir waren autonom. Wir waren laut. Wir waren unkontrollierbar. Wir waren nicht kompromissbereit, Männer konnten keinen Druck auf uns ausüben. Wir wollten nichts von ihnen: keinen Job, keine Veranstaltung, keinen Plattenvertrag. Wir wollten nicht von ihnen im Radio gespielt und nicht rezensiert werden, und keine aus der Band wollte mit ihnen ficken. Wir haben uns einfach umgedreht und sind gegangen. Wir wollten nur unsere Musik machen – und irgendwo konnten wir immer spielen, egal wie klein oder heruntergekommen es auch war. Wir hatten es nicht auf Geld oder Ruhm abgesehen. Was konnten sie schon gegen Mädchen ins Feld führen, die sich für den ganzen kapitalistischen Schnickschnack nicht interessieren? Sie haben keine Macht, solange du dich nicht drum scherst.

Mächtige Männer, darunter auch Jungs in Bands, suchten sich ihre Opfer unter anderem, indem sie Roadies oder sonstige Handlanger während der Konzerte durchs Publikum schleichen ließen, damit sie hübsche, junge, unschuldige und/oder stargeile Mädchen herauspickten und hinter die Bühne lockten. Bei uns haben es die Roadies nie versucht, wir sahen furchterregend aus. Außerdem waren wir sowieso schon hinter der Bühne.

Wir gehörten nicht zur Band, wir waren die Band. Einmal in einem Club hörte eine Freundin von mir, wie der Assistent von Malcolm McLaren zu Malcolm sagte: „Welche willst du?“ Sie sahen zu mir rüber, und der Assistent sagte: „Willst du Viv? Ich hol sie dir.“ Hat er nicht. Ein anderes Mal war ich mit Malcolm und ein paar anderen ausgegangen, und Malcolm fragte mich, ob ich später noch zu ihm in sein Hotelzimmer kommen wollte. Ich lachte ihm ins Gesicht und sagte: „Du machst wohl Witze.“ Ich mochte Malcolm, wahrscheinlich war’s bloß ganz freundschaftlich gemeint, aber ich wollte es nicht drauf ankommen lassen. Damals war er ein mächtiger Mann, aber ich war bereit, auf alles zu verzichten, was er für mich tun konnte, zum Beispiel meinen Ruf stärken, mich managen oder mich bei einem Label unter Vertrag bringen. Hoch lebe die Zeit, als es in bestimmten Kreisen noch okay war, kein Geld und keinen verdammten Job zu haben oder zu wollen. Hoch lebe die Zeit, als es noch nicht so viel Make-up, so viele Handtaschen, Häuser, Möbel, Klamotten, Cafés und Gourmettempel gab, nach denen es zu streben galt. Und Berühmtheit noch etwas für einige wenige Auserwählte war.Aber die Slits wurden verspottet, lächerlich gemacht und bei jedem ihrer Schritte unterminiert – so machen Menschen in Machtpositionen das mit allem, was sie bedroht, sie machen sich darüber lustig.

„Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“ (Mahatma Gandhi)

Wir nahmen Vivienne Westwoods Ethos sehr ernst: „Tu, was du willst – es ist nicht wichtig, ob es technisch gut ist, aber es muss originell sein, und Leidenschaft muss darin stecken.“ Dieses Ethos haben wir auf unsere Klamotten, unsere Texte, unsere Bewegungen auf der Bühne, die Art, wie wir unsere Instrumente hielten, unsere Rhythmen, unsere Akkordfolgen und unsere Songstrukturen angewendet.

Alles, was wir als Band gemacht haben, wurde mit großer Strenge dekonstruiert und mit Verantwortungsbewusstsein und Leidenschaft immer wieder umarrangiert. Die Typen haben es nicht verstanden. Ihrer Ansicht nach war das kein Rock’n’Roll. „Wir können die nicht ernst nehmen, weil sie ­live nie den Takt halten.“ (Wir hörten sehr viel afrikanische und indische Tabla-Musik, wo auch ständig das Tempo variiert. Und beruht Musik nicht auch auf Sex? Verändert ihr beim Sex nicht das Tempo? Fickt bloß nie mit einem weißen Schlagzeuger!) Oder sie sagten: „Das ist kein Viervierteltakt, die haben keine Ahnung, was sie machen.“ Und wir haben über Themen gesungen, mit denen sie nichts anfangen konnten oder die sie nicht cool fanden (keine Route 66, niemand wurde „Baby“ genannt, und Waffen kamen auch keine vor), wir haben über die Angst gesungen, wenn man nachts nach Hause geht, Monatsblutungen und das, was die Gesellschaft von Mädchen erwartet. Journalisten gingen sogar so weit zu behaupten: „Mädchen sehen mit Gitarren nicht gut aus.“

Sabotiert – weil wir Frauen waren

Wir waren bei Veranstaltungen, in Hotels, Tourbussen, Radio- und Fernsehsendern und Zeitschriften verboten. Überall, die ganze Zeit. Nein, wir wurden von Männern in Machtpositionen innerhalb der Musikindustrie nicht sexuell missbraucht. Wir wurden sabotiert. Weil wir Frauen waren. Frauen mit Haltung und Ansichten. Frauen im fick­baren Alter, die aber zu bedrohlich wirkten, um sich ­auch ficken zu lassen. Natürlich wurden die Slits vergewaltigt, angegriffen, mit Messern attackiert, belästigt, missbraucht, bespuckt und auf offener Straße beschimpft. Dort waren wir angreifbar. Wir mussten zusammenbleiben, ständig. Wenn wir in einem besetzten Haus geprobt haben, sind wir danach nicht getrennt unserer Wege gegangen, wir waren nicht sicher, auch nicht am helllichten Tag. Wir schliefen nachts jeweils bei einer von uns auf dem Boden, weil wir nicht sicher nach Hause kamen, nicht so wie wir angezogen waren, mit unseren Nieten-Sadomaso-Halsbändern, den Kinderballettkleidern und den schweren Männerarbeitsstiefeln, dazu noch unsere spöttisch-abfälligen Mienen und verfilzten Haare. Dieser gezwungenermaßen intensive Kontakt hat unser Ende als Band beschleunigt. Wir haben uns zu häufig gesehen, es gab keine Atempausen. Wir waren uns gegenseitig Schutz und Klotz am Bein.

Die meisten Männer, Männer in der Musikindustrie, normale Männer, Männer auf der Straße, konnten uns nicht „sehen“. Sie sahen nichts außer einer Bedrohung. Sie konnten unsere Musik nicht hören, sie hörten nichts außer einer Bedrohung. Es hat 40 Jahre gedauert, bis die Leute angefangen haben, unsere Musik zu hören und anzuerkennen. Junge Menschen haben uns durch das Internet entdeckt. In die Vergangenheit und auf einen Bildschirm verbannt sind wir ungefährlich. Und alt. Ari, unsere damals 15-jährige Sängerin, die Bedrohlichste von uns allen, ist tot. Jetzt können wir gehört werden. Jetzt heißt es: „Erste Post-Punk-Band!“, „wilde formale Neuerfindungen“, „Revolutionärinnen“, „experimentelle Musik“, „intelligente Texte“. Jetzt schreibt man uns in die überarbeiteten Geschichtsbücher des Punk und Post-Punk ein. Jetzt versteht man uns. Jetzt sind wir keine Bedrohung mehr.

2.

Wie viele Vorfälle von sexueller Belästigung durch mächtige Männer aus der Musikindustrie habe ich erlebt, als ich in den Nullerjahren solo ­gespielt habe? Einen.
Er war ein alter Freund, den ich seit Jahren nicht gesehen hatte, ein Musikmanager aus den Siebzigern. Ich hatte nach 25 Jahren Pause wieder angefangen, Musik zu machen. Ich war über 50. Ich hatte ihn gefragt, ob er mich managen würde. Er sagte, er würde lieber Leute managen, die er formen und beeinflussen kann. Junge Menschen. Wir waren mit einer weiteren Person in einem Hotelzimmer, er war betrunken und fing an, mich zu betatschen und mir die Zunge in den Mund zu schieben. Ich hatte gewagt, etwas von einem Mann zu wollen, und offensichtlich war das der Fehler, den ich gemacht hatte. So was setzt sich in ihren Hirnen fest: Hier ist ein weibliches Wesen, das etwas von mir will. Das kann ich ausnutzen. Zusammen haben wir, die andere Frau und ich, ihn daran gehindert.
Mein nächster Manager, der nur drei Monate lang durchhielt und niemals zurückrief, wenn ich ihn darum bat, sagte mir, wenn ich meine Autobiografie selbst schreiben wollte, würde sie „scheiße“ werden. Er wollte eine junge, formbare Journalistin, die er kannte, als Ghostwriterin verpflichten. Zuerst glaubte ich ihm, dass ich das Buch nicht schreiben könnte. Dann begriff ich, dass er, wie die Männer bei den Plattenfirmen, meine Geschichte kontrollieren wollte. Sie können es nicht ertragen, keine Macht über einen zu haben.

Größtenteils war das Musikmachen mit über 50 genauso wie das Musikmachen mit Mitte 20. Ein beschissenes scheiß Déjà-vu. Dieselben Kontrollversuche, dieselben Beleidigungen und Herabwürdigungen. „Du bist schlecht“‚ „du kannst nicht spielen und nicht singen“‚ „du bist zu alt“ (das war mal was Neues). Fast alle sogenannten Indie-Labels – die alle von nerdigen Männern geleitet werden, die normalerweise keine abbekommen und ohne Punk niemals ein Indie-Label geleitet hätten – teilten mir mit, dass sie mein Album, „The Vermilion Border“, nicht veröffentlichen wollten. Obwohl es schon aufgenommen und gemischt war und besser war als alles, was sie sonst auf ihren Labels hatten. Sie behaupteten, es täte ihnen leid, aber tatsächlich lag es daran, dass sie mit meiner Entwicklung als Künstlerin nichts zu tun hatten, mich weder aufbauen noch „erschaffen“ konnten. So wie es mir der grapschende Manager im Hotel erklärt hatte.

The Slits: Viv Albertine, Bruce Smith, Ari Up
The Slits: Viv Albertine, Bruce Smith, Ari Up

Stattdessen nahmen sie Dutzende junger Bands unter Vertrag, die wie die Slits klangen, nur nicht so gut, oder wie ­Iggy And The Stooges, nur nicht so gut, oder wie The Clash, nur nicht so gut. Der Unterschied ist, dass sich die jungen Menschen in diesen Bands beeinflussen und dominieren ließen. Die Chefs der Plattenlabels durften bei ihren Proben und Aufnahmesessions dabei sein und alles kommentieren. Ihre Meinung wurde dort respektiert. Und sie würden auf jeden Fall Lob von ihren Kollegen dafür bekommen, dass sie ein neues Talent „entdeckt“ hatten. Eine 50-Jährige „entdeckt“ zu haben, die bereits bekannt ist, weil sie bei den Slits war, ist nichts, wofür man gelobt werden kann. Zum Schluss habe ich meine Platte über Cadiz vertrieben, und sie hat sich sehr gut verkauft.

Zu unbequem, zu ehrlich, zu unnachgiebig

Also nein, die Slits wurden von Männern in Machtpositionen nicht sexuell belästigt, weil wir uns wie die mittelalterliche Heilige Wilgefortis, die sich einen Bart stehen ließ, um ihren zudringlichen Vater (das Patriarchat) abzuwehren, mit unserer Haltung und unserem Erscheinungsbild für Männer in Machtpositionen sexuell inakzeptabel gemacht haben. Und ich allein wurde auch nur einmal belästigt, und als ich älter wurde, hielten sie sich sowieso von mir fern. Sowohl die Slits als auch ich wurden aber in anderer Weise dafür bestraft, dass wir das Spiel nicht mitgespielt haben. Ich hatte oft Angst. Nicht vor diesen selbstgefälligen Wichsern in Machtpositionen. Diesen Lutsch-mir-den-Schwanz-und-du-bekommst-eine-Rolle-in meinem-Film-Arschlöchern. Ich war zu unbequem, zu ehrlich, zu unnachgiebig, um in den 70er-Jahren in einem Film mitzuspielen. (Wobei ich mit Mitte 50, als ich Krebs und ungefähr hundert andere Krankheiten gehabt hatte und endlich für „handhabbar“ gehalten wurde, doch noch in einem Film mitgespielt habe: „Exhibition“ – gedreht von einer Regisseurin. Und ich hab’s verdammt noch mal gehasst, nur Spielfigur zu sein. Mir sagen zu lassen: „Tu dies, tu das, mach’s noch einmal, mach’s schneller, mach’s langsamer, mach’s nackt.“ Nie wieder! Meiner Meinung nach ist das ein echter Scheißjob.)

Ich wurde bestraft, so wie alle Frauen bestraft werden, die sich weigern, sich anzupassen. Sie sind nicht sicher auf der Straße, bekommen keine Jobs oder werden nicht anständig bezahlt. Sie haben keine Familie und keine gleichberechtigte Beziehung. Und weil ich so lange arm war, hat auch meine Gesundheit gelitten – noch immer muss ich hin und wieder ins Krankenhaus wegen der Bronchitis, die ich mir zugezogen habe, als ich in besetzten Häusern gewohnt habe und auf Tour gegangen bin. Auch psychisch hat meine Gesundheit gelitten, ich bin übervorsichtig und paranoid – die Folge ständiger Kämpfe und Angriffe, die die Slits in einem für den Charakter prägenden Alter erdulden mussten. Und weil mich diese Zeit so traumatisiert hat, kann ich es nicht mehr ertragen, Musik zu hören. Auch das ist ein Preis, den ich bezahlt habe. Aber hey, ich hab’s geschafft sexuellen Übergriffen durch Männer in Machtpositionen zu entgehen (außer einmal, als ich etwas wollte).

Auch jetzt können Frauen institutionalisiertem Sexismus und Übergriffen nur entgehen, indem sie sich nicht in Institutionen begeben. In keine Anwaltskanzleien, keine Krankenhäuser, keine Filmfirmen, keine Plattenfirmen, keine Fernsehproduktionen, keine Ehe. Also werdet nicht krank und geratet auch nicht mit dem Gesetz in Konflikt! Die meisten Künstlerinnen werden niemals ein Haus kaufen können, zwei Komma vier Kinder bekommen, ein eigenes Auto besitzen, Rente beziehen, ihre geistige und körperliche Gesundheit behalten oder sich in die verfluchte Scheißgesellschaft integrieren.

Gewöhn dich an Ablehnung

Wenn du eine Frau bist und an das glaubst, was du tust, wird es dir gelingen, deine Arbeit zu machen und fast gar nicht sexuell belästigt zu werden, wenn du zu Folgendem bereit bist: Schreibe und spiele deine Songs, erwarte aber nicht, dass jemals jemand anders sie hören wird. Dreh deine eigenen Filme (und besetze sie mit Leuten aus der Arbeiterschicht). Huste Schleim wegen der Feuchtigkeit in den Räumen, in denen du lebst. Finde dich mit schlechten Zähnen ab und einer schlechten Gesundheit infolge schlechter Ernährung. Besuche keine Konzerte und Restaurants, du kannst sie dir nicht leisten – wenn du allein im Zimmer sitzt, kannst du die Zeit wenigstens nutzen und dir ein paar originelle Ideen einfallen lassen. Gewöhn dich an Ablehnung, härte dich dagegen ab. Du darfst niemals von jemandem etwas wollen.

Und wenn trotzdem irgendein Arschloch unaufgefordert Hand an dich legt? Mach keine Zugeständnisse, denk nicht, du hättest es dir nur eingebildet, mach dir keine Vorwürfe, halt nicht die Klappe, weil er dir sonst vielleicht keinen Job gibt oder weil er damit droht, deine Karriere zu zerstören. Geh einfach (und wenn es für dich dadurch nicht noch gefährlicher wird, tritt ihm vorher in die Eier). Und verabschiede dich von deiner Karriere – als ich jung war, galt so was bei mir und den anderen sowieso als das Widerlichste, wonach man streben konnte. „Karrierist“ war das schlimmste Schimpfwort. Ich zucke zusammen, wenn junge Musiker, die als radikal gelten, über ihre Karriere reden. Das Künstlersein hat nichts mit Abgesichertsein und Karriere zu tun.

Die Moral von dieser Geschichte ist: Mädchen, wenn ihr auf keinen Fall in Situationen geraten wollt, in der ihr vielleicht sexuell missbraucht werdet, dann hört auf, Teil dieser Gesellschaft zu sein, vergesst das Geldverdienen oder Anerkennung für das zu bekommen, was ihr liebt oder gut könnt. Glaubt nicht, dass ihr einen männlichen Partner findet. Verbringt eure Zeit mit Frauen (sowieso interessanter). Findet euch damit ab, dass ihr vielleicht den Rest eures Lebens arm und einsam sein werdet. Und nehmt vor allem keine Drogen. Ich meine es ernst.

Wenn ihr überleben wollt, werdet ihr jede einzelne Hirnzelle brauchen.


Keine typischen Mädchen

Viv Albertine
Viv Albertine

Unsere Autorin Viv Albertine war einst Gitarristin der legendären All-Girl-Punk-Band The Slits

Viv Albertine, 1954 als Tochter einer Schweizerin und eines Korsen in Sydney geboren, zog im Alter von vier Jahren mit ihren Eltern nach England. Sie wuchs im Norden Londons in armen Verhältnissen auf, ihr Vater war gewalttätig, die Musik war die Rettung: zunächst vor allem die Platten der Beatles, später ­Patti Smith. Mit 21 beschloss sie, selbst Musik zu machen, lernte zwei Akkorde auf der Gitarre, spielte mit Sid Vicious bei den Flowers Of Romance und stieg schließlich in die All-Girls-Punk-Band The Slits ein, die sich, wie schon das Cover zeigt, gegen stereotype männliche Zuschreibungen zur Wehr setzten. „Who invented the typical girl?/ Who’s bringing out the new improved model?/ And there’s another marketing ploy/ Typical girl gets the typical boy“, sangen sie auf ihren heute klassischen Debüt, „Cut“ von 1979. „Wir betrachten uns nicht als Entertainerinnen, die wollen, dass das Publikum 40 Minuten lang seine Sorgen vergisst, sondern als Kriegerinnen“, schrieb sie in ihrer Autobografie, „A Typical Girl“ von 2014, die in der fantastischen Übersetzung von Conny Lösch 2016 im Suhrkamp-Verlag erschienen.

Den hier abgedruckten Text hat Viv Albertine exklusiv für den deutschen ROLLING STONE verfasst.

Terry Lott Sony Music Archive/Getty Images
David Corio Redferns
Kevin Cummins Getty Images
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