Wer „Roma“ sehen will, muss auch „Y Tu Mamá También“ kennen

Mit „Roma“ kehrt Meisterregisseur Alfonso Cuarón nach Abstechern in eine dystopische Zukunft und den Weltraum zurück in seine Heimat Mexiko. Dort drehte er einst auch einen bittersüßen Jugendfilm, der schmerzhaft viel über das Land verrät.

Eine Verbeugung vor seinem Hausmädchen, eine Hommage an die stillen Arbeiterinnen im Hintergrund. Das hatte Regisseur Alfonso Cuarón, wie er kurz vor der Premiere seines neuen, exklusiv bei Netflix startenden Films auf dem Filmfestival in Venedig erklärte, im Sinn, als  er die ersten Drehbuchzeilen für „Roma“ verfasste.

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Das poetische Schwarz-Weiß-Porträt, das autobiographische Tendenzen hat und ganz sicher bei den Oscars im kommenden Jahr eine Rolle spielen wird, ist bei aller ästhetischer Perfektion auch eine Auseinandersetzung mit Cuaróns Heimat. Ein Projekt, das der Filmemacher seit vielen Jahren verfolgt und nun mit dem üppigen Budget eines Streaming-Anbieters und völliger künstlerischer Freiheit verwirklichen konnte.

„Roma“ gehört ganz sicher zu den besten Filmen des Kinojahrs 2018
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Das ist überraschend, denn spätestens mit dem kunstvollen 3D-Space-Opera-Spektakel „Gravity“ ist Cuarón ganz oben in der Hollywood-Riege angekommen. Er hätte jedes Blockbuster-Projekt der Welt anvertraut bekommen. Zumal er mit dem eleganten dritten Teil der „Harry Potter“-Saga bereits bewies, dass ihm auch Geschichten für das große Publikum liegen. Dennoch ging es Cuarón ganz bewusst darum, nach Mexiko zurückzukehren und eine vermeintlich kleine Geschichte zu erzählen.

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Den deutlichsten Eindruck einer Stellungnahme zur Historie seines Geburtslandes hinterlässt der Regisseur in „Roma“ wohl mit der Thematisierung des Fronleichnam-Massaker im Jahr 1971. Cuarón war zum Zeitpunkt des blutrünstigen Vorfalls, bei dem viele Studenten ihr Leben ließen, gerade einmal neun Jahre alt. „Mexiko ist ein Land mit vielen Brüchen und Traumata“, sagte der Regisseur folgerichtig in einem Interview. „Aber dieses Massaker war sehr prägend.“

„Y Tu Mamá También“ feiert die Jugend und das Verlieren der Unschuld

Wenn eines wirklich prägend ist für Mexiko, dann ist es neben der unheimlichen Bezogenheit zum Tod eine dazu im Gegensatz stehende und kaum erklärbare, spirituelle Freude am Leben, an der Lust, an der Liebe, am Feiern, an der Gemeinschaft. Das und noch einiges mehr erzählte Alfonso Cuarón in seinem eindrucksvollen Jugendfilm „Y Tu Mamá También – Lust for Life“.

„Y Tu Mamá También“ zeigt einen kurzen Trip in eine Welt ohne Zwänge
„Y Tu Mamá También“ zeigt einen kurzen Trip in eine Welt ohne Zwänge

Ein „Coming Of Age“-Drama par excellence, mit unverbrauchten Gesichtern, satten Landschaftsaufnahmen und pikanten Erotikszenen, das 2001 Furore machte und auch an der Kinokasse Eindruck hinterließ. Und ein cineastischer Triumph, der Cuarón nach der inzwischen etwas in Vergessenheit geratenen Dickens-Adaption „Große Erwartungen“ (1998) zurück ins Spiel brachte, nachdem er zwar als Talent anerkannt, aber in Hollywood nicht weiter gefördert wurde.

Renaissance des mexikanischen Films

Nach „Amores Perros“ (2000) von Alejandro González Iñárritu, „The Devil’s Backbone“ (2001) von Guillermo del Toro und „Japón“ (2002) von Carlos Reygadas (2002) lieferte „Y Tu Mamá También“ nur den überzeugendsten Beweis dafür, dass der mexikanische Film von einer Neuen Welle angetrieben wird. Zumal sich ihre Protagonisten als Produzenten gegenseitig stützen und mit Stoffen versorgen – mit Feingefühl sogar die Filmproduktion in ihrer Heimat fördern (siehe den borstigen Skandal- und Experimentalfilm „We Are The Flesh“, der von Cuarón und Iñárritu mitproduziert wurde).

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Das Interesse an den Mexikanern ist bis heute geblieben und entlädt sich regelmäßig bei der Verleihung der Academy Awards. Iñárritu schaffte es sogar, gleich zweimal den Regie-Oscar zu gewinnen („Birdman“ und „The Revenant“) Dieses Kunststück könnte Cuarón nun mit „Roma“ wiederholen.

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Aber zurück zu „Y Tu Mamá También“: Der Film erzählt die Geschichte der beiden Jugendlichen Tenoch (Diego Luna) und Julio (Gael García Bernal, nach „Amores Perros“ in seiner zweiten großen Rolle), die sich bereits seit dem Sandkastenalter kennen und nach dem Schulabschluss, von allen Erwartungen befreit, unerwartet die Aufmerksamkeit der wesentlich älteren Luisa (Maribel Verdú) auf sich ziehen. Sie ist verheiratet mit Tenochs Cousin. Um sie zu beeindrucken, erzählen die Teenager von der geplanten Reise zu einem echten Traumstrand.

Ihre Überraschung könnte nicht größer sein, als Luisa ihnen nur kurz nach diesem Zusammentreffen mitteilt, mit ihnen bald aufbrechen zu wollen. Sie hatte derweil erfahren, dass ihr Mann sie schon seit langer Zeit betrügt. Und auch ein Geheimnis trägt sie mit sich herum, das Tenoch und Julio am Ende dieser magischen Fahrt ins Ungewisse die Unschuld ihrer verwehenden Kindheit raubt.

Tenoch und Julio kreisen um Luisa wie um eine Göttin - was diese sichtbar genießt
Tenoch und Julio kreisen um Luisa wie um eine Göttin – was diese sichtbar genießt

Der Film ist on location in spanischer Sprache gedreht und wurde von Cuarón ganz bewusst in der Reihenfolge der Drehbuchhandlung aufgenommen, was aus produktionstechnischen Gründen selten der Fall ist. Aber nur so konnte er die Entwicklung der Figuren, getragen von einem geradezu familiären Cast, der sich bereits seit Jahren kannte, auch plausibel und authentisch gestalten. Das Ergebnis ist beeindruckend: „Y Tu Mamá También“ sprüht über vor lyrischen Situationen und kurzen, wie improvisiert wirkenden Sequenzen.

Natürlich geht es hier vor allem um das Eine!

Im Süden Mexikos, in Oaxaca-Stadt, angekommen, wird die Stimmung zwischen dem Trio immer elektrisierender. Natürlich prahlen die beiden Kumpels mit ihren sexuellen Erfahrungen (und in der Tat sieht man beide zu Beginn des Films mit ihren alsbald in die Ferne zu Studienreisen aufbrechenden Freundinnen im eher etwas hilflosen Rausch der Hormone). Aber natürlich erweist sich dies schnell als glatte Lüge, als Luisa einen nach dem anderen verführt. Mit Treue haben es die Schwerenöter ohnehin nicht so. Beide gestehen sich, dass sie jeweils mit der anderen Freundin geschlafen haben. Julio trieb es sogar mit Tenochs Mutter, worauf sich auch ganz konkret der Titel des Films bezieht.

Luisa treibt den Jungs die Flausen aus dem Kopf
Luisa treibt den Jungs die Flausen aus dem Kopf

All das hätte ein plumper Teeanger-Streifen vom Reißbrett werden können, eine Art „Road Trip“ auf Spanisch. Doch genau das ist „Y Tu Mamá También“ trotz seiner freizügigen Handlung und der Perspektive auf zwei zaghafte Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsensein nur bedingt. Das liegt vor allem an der wunderbaren Maribel Verdú, die die beiden Jungs gleichzeitig erregt, abstößt, neugierig macht und mit dem nackten Leben konfrontiert. Kritikerpapst Roger Ebert brachte es vielleicht am schönsten auf den Punkt, als er zum Kinostart davon schrieb, dass Verdú „weiser, sexier, komplexer, glücklicher, trauriger“ sei als andere vergleichbare Figuren im amerikanischen Jugendfilm.

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Luisa erfüllt Tenoch und Julio den Wunsch nach einem „flotten Dreier“ – und bringt beide ganz beiläufig dazu, sich zu küssen und körperlich einander näher zu kommen. Es sind solche Momente der Freiheit, die niemals aufgesetzt wirken, keinen Hauch von plakativer Darstellung von Diversität oder sexueller Multidimensionalität an sich haften haben, die den Film so wahrhaftig erscheinen lassen. Ohne dass es der Zuschauer sofort bemerkte, wird ihm der nicht immer ganz einfache Alltag in Mexiko und damit vor allem die Zerrissenheit seiner Bewohner im Kampf zwischen Moderne und Tradition näher gebracht.

Was bleibt, ist auch die Melancholie der verlorengehenden (Tenoch und Julio) und der verlorengegangenen (Luisa) Jugend
Was bleibt, ist auch die Melancholie der verlorengehenden (Tenoch und Julio) und der verlorengegangenen (Luisa) Jugend

Betörende Bilder von Mexiko

Kameramann Emmanuel Lubezki, längst einer der größten seiner Zunft, nimmt dieses mal fahle, mal in allen Farben strahlende Mexiko mit bewegenden Kamerafahrten in Augenschein, bleibt ganz nah bei den Charakteren. Dennoch sind hier noch nicht jene beeindruckenden Kameratricks zu sehen, für die Lubezki – seit Cuaróns amerikanischem Debüt „Little Princess“ (1995) stets an der Seite des Mexikaners – in den letzten Jahren zurecht mit Preisen überhäuft wurde. Dafür ein konzentrierter Blick, der keine Sekunde lang zur übertriebenen Ernsthaftigkeit tendiert.

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Ein Jahr nach der dionysischen Odyssee treffen sich die nun zu Männern gereiften Freunde noch einmal in einem Café. Sie werden bald studieren. Nun schauen sie zurück auf ihre letzten Tage in Freiheit. Tenoch erzählt Julio vom traurigen Schicksal Luisas, die beide so sehr durcheinander gebracht und doch zu Sinnen kommen lassen hat. Die Jungs werden sich nie wieder sehen.

„Y Tu Mamá También“ gibt es auf DVD – zur Zeit aber auf keinem Streaming-Portal.

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