The Cure

Kiss Me Kiss Me Kiss Me

18 Songs über Liebe, Sex und zerbrochene Freundschaften.

Würde er „Kiss Me Kiss Me Kiss Me“ in Gänze live aufführen, sagte Robert Smith vor ein paar Jahren, dann wäre Barcelona im Sommer der stimmigste Ort: rot, heiß, laut, feurig. Der Cure-Sänger kennt das Image der Platte, die siebte, mit der seine Bandkollegen und er fast (erst „Disintegration“ 1989 machte sie richtig groß) zu Stars wurden.

Die Vorab-Single „Why Can’t I Be You?“, mit DEM Drum-Intro, folgendem Motown-Beat, Bläser-Fanfaren und einem völlig hingerissenen „I Kiss You From Your Feet To Where Your Head Begins“-singendem 28-Jährigem, der im Video als Teddybär auftrat, gab die neue, verspielte Richtung vor.

Ich will Dich fressen

Dabei hätte alles ganz anders kommen sollen, und die allgemeine Wahrnehmung von „Kiss Me“ wäre heute vielleicht eine andere – Smith hatte geplant „How Beautiful You Are“ als erste Auskopplung zu bringen. Das Lied beginnt mit der Zeile „You Want To Know Why I Hate You“, den letzten Absatz eröffnet er mit „This Is Why I Hate You“. Dazwischen eine sanft an- und abschwellende, eher erzählerische als auf einen Refrain-Höhepunkt zusteuernde Melodie, Schilderungen wie im Tagebuch – „You Remember That Day In Paris, When We Wandered Through The Rain“. Die Plattenfirma intervenierte damals, ein Single-Mix von „How Beautiful You Are“ blieb unveröffentlicht, und im April 1987 erschien „Why Can’t I Be You?“ als Starter.

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Das Albumcover zeigte Smiths Lippen in Großaufnahme: Er verstand das Werk nicht als Flirt-Angebot, schon gar nicht im Sinne von Chancengleichheit. Der Sänger wollte seine Angebetete auffressen. Ähnlich Neurosen-geplagt wirkte schon der Arbeitstitel des Doppel-Albums: „1,000,000 Virgins“. Aber so sehr Pop-Nummern wie „Hey You!!!“ oder „The Perfect Girl“ das Bild von The Cure in jenem Jahr auch prägten, der Sänger hatte viel Frust aufgebaut.

Die Spannungen mit dem alkoholkranken Gründungsmitglied Lol Tolhurst wurden größer. Smith erbarmte sich irgendwann sogar, den angeschlagenen Keyboarder allein deshalb als Song-Autor zu listen, damit der arme Kerl überhaupt noch was verdiente. Bevor Tolhurst 1989 endgültig gehen musste, nutzte Smith ihn als Inspiration für eines der hasserfülltesten Lieder, die er je schrieb. Der Legende nach platzierte er das Studiomikro direkt vor dem ehemaligen Freund, als er die Zeilen von „Shiver and Shake“ einsang: „You’re just a waste of time / You’re just a babbling face“, „You’re a fucking waste (…) „You’re useless and ugly (…) When I think of how you make me hate/ I want to smash you to pieces“.

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Bei all dem Barcelona-Feeling ließ sich böses Blut also nicht abwenden, und auch wenn Lieder wie „Torture“, „Icing Sugar“ (Zeile: „I’ll Empty You As Empty As A Boy Can Be“) oder „All I Want“ nicht von Tolhurst handelten, so spiegelten sie doch eine Frustration, die Robert Smith nach all den Jahren langer Freundschaft nicht mehr mit sich rumtragen wollte. „Kiss Me Kiss Me Kiss Me“ beendete schließlich die bislang längste Albumpause von zwei Jahren. Zu den 18 Songs auf Platte gesellten sich insgesamt fünf Single-B-Seiten sowie der „Stranger Than Fiction“-Sampler-Beitrag „To The Sky“: 24 berauschende Songs. Smith bewegte Massen an Material, er wollte nun, dass sich der Aufwand auszahlte. Der torkelnde Tolhurst stand im Weg.

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Der Album-Vorgänger „The Head On The Door“ von 1985 etbalierte The Cure bereits als Charts-Band, die Auskopplungen „In Between Days“ und „Close To Me“ gehörten zu den wohl schönsten Pop-Singles des Jahrzehnts. Aus dem neuen Werk entließ Smith gleich vier: Auf „Why Can’t I Be You?“ folgte „Catch“ (bei den Dreharbeiten zum Video soll Lol Tolhurst etliche Takes benötigt haben um Geige spielend die Wendeltreppe herunterlaufen zu können), „Just Like Heaven“ sowie „Hot Hot Hot!!“.

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Im Februar 1988 als Single erschienen, passte „Hot Hot Hot!!!“ perfekt nach Ibiza, wo es in den Clubs rauf- und runterlief und wieder einmal den auf den Balearen starken New Order Konkurrenz machte. Der Song war ein damals bei Hardcore-Fans nicht wirklich beliebter Funk-Ausflug, auch hier gab’s Bläser und ein in allen Höhen jauchzender Smith, der im Refrain dreimal den Zeigefinger ausrichtet („Hey Hey Hey!“). Das Video zeigte die Bandmitglieder auf Showbühnen-Podesten, mit Sonnenbrillen und als Fake-TV-Auftritt auf Schwarzweiß-Sixties getrimmt. „Hot Hot Hot!!“ war ein Song-wie Video-Experiment – und natürlich ein bisschen doof. Lieferte aber auch keinen Grund The Cure den „Ausverkauf“ vorzuwerfen, den Indie- und Grufti-Fans vor allem in den 1980-Jahren immer ganz schnell auszupacken wussten. Nun tanzten eben Sommerinsel-Partygänger in Shorts zu Cure.

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„Just Like Heaven“ entwickelte sich zum heute vielleicht populärsten Song der Band. Sogar Smith deutete vorsichtig an, es könnte dem angestrebten „perfekten Pop-Song“ nahe gekommen sein. Wie sich die Instrumente, erst Schlagzeug und Bass, dann Leadgitarre, Rhythmusgitarre, Keyboard, wieder Lead-Gitarre, nach und nach einfügen, ist schlicht umwerfend. In diese ersten 30 Sekunden sollte man sich immer wieder neu verlieben, und der Text zum Lied ist Smith pur: Romanze mit einer engelsgleichen Erscheinung, die ihn am Ende doch wieder allein zurücklässt. Auf jeden Fall teilt „Just Like Heaven“ sich mit Stücken wie „One“ sowie „Where The Streets Have No Name“ von U2,  „Sweet Child O‘ Mine“ von Guns N’Roses, Michael Jacksons „Beat It“ oder Prince’ „Purple Rain“ den Platz der vielleicht besten dritten Auskopplung aus einem Album (weitere „beste dritte Single-Auskopplungen“ bitte an den Rezensenten mailen).

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Das Schöne an „Kiss Me Kiss Me Kiss Me“: Man kann die 18 Songs von vorne bis hinten ebenso gut hören wie von hinten bis vorne. Erst bei späteren Werken entwickelte sich die Smithsche Tendenz, nach hinten hin immer länger, schwerer, „epischer“ zu werden. Hier hätten die zwei pointierten Schluss-Stücke „Shiver and Shake“ und „Fight“ die Platte auch genauso gut eröffnen können. „The Kiss“ und „The Snakepit“ nehmen vielleicht den eher hypnotischen, Voodoo-artigen langminütigen Hardrock von „Wish“ (1992) oder die instrumentalen Ausschweifungen von „Disintegration“ vorweg. Ansonsten befindet sich auf dieser Platte überwiegend Single-Material. Das Titelstück war in der Tracklist sicher für die Eins gesetzt – ansonsten erscheinen die Positionierungen wie gewürfelt, und es dürfte wenige Alben geben, bei denen das derart erfrischend wirkt.

Zwar kam am Ende keine der vier Single-Auskopplungen in die UK-Top 20, und Platz sechs in den Alben-Charts kann für „Kiss Me Kiss Me Kiss Me“ auch nur deshalb als Erfolg verkauft werden, weil eben keine Cure-Platte dort zuvor höher stieg (in Frankreich landete das Werk auf der Zwei, was die Bestätigung ist: 1987 waren Cure umso erfolgreicher, je südlicher man Ausschau nach ihnen hielt).

Aber der Weg war geebnet: „Disintegration“ würde zwei Jahre später zur meistgeliebten Veröffentlichung der Band werden. „Wish“ bescherte ihnen später den Durchbruch in den USA.

Die besten Songs aber steckten in diesem Doppel-Album, das nun seit 30 Jahren strahlt.