Interview

Garbage: Ein Gespräch mit Butch Vig über den „gigantischen Ozean der Mittelmäßigkeit“

Was hat sich in den letzten 20 Jahren in der Musikbranche geändert? Butch Vig bleibt diplomatisch. Der Produzent und Schlagzeuger nimmt sich die Zeit, um Pros und Contras aufzustellen – und spricht über das Remaster von „beautifulgarbage“

Video-Calls sind neben der pandemiebedingten Umstände noch für eines gut: Wenn sich zwei Individuen für ein Gespräch verabreden, aber tausende Kilometer voneinander entfernt sind. Wäre die Zeitumstellung nicht – im einen Fester ist es bereits dunkel, im anderen taghell – würde es kaum einen Unterschied machen, ob Butch Vig nun im Nebenzimmer der Redaktion säße, oder in seinem Studio in Los Angeles.

Butch Vig produzierte neben Nirvana viele andere große Bands wie die Foo Fighters und Sonic Youth – mit seiner eigenen, prächtig erfolgreichen Band Garbage feiert der Schlagzeuger kürzlich das 20. Jubiläum ihres dritten Studioalbums „beautifulgarbage“. Im Gespräch wirkt der 64-Jährige wie ein Mentor, der Karriereschritte klar einzuordnen weiß – seine eigenen, wie die der anderen. Wir unterhielten uns mit ihm über das Remaster, die Musikindustrie und das Baby des „Nevermind“-Albumcovers.

Sie sind nun seit einigen Jahrzehnten im Musikgeschäft. Welche Veränderung ist für Sie eine fundamentale?

Nun, die digitale Revolution hat die Art, wie aufgenommen wird, völlig verändert. Und das hat fairere Bedingungen für alle geschaffen: Jeder kann plötzlich hochwertige Aufnahmen im eigenen Keller produzieren – und das ging vor 20 Jahren einfach nicht. Damals musste ich lernen, wie man mischt und aufnimmt. Das war erstmal ein Mysterium, und man musste lernen, wie all das funktioniert. Als ich anfing, waren Musiker*innen, glaube ich, relativ planlos, was so im Studio passiert, bis man tatsächlich mal in einem stand und etwas aufnahm. Und heute hat jeder Laptop so viel Power, dass die Ausgangsvorraussetzungen abgesenkt wurden, was wiederum einer ganzen Generation von Künstler*innen Kraft in den Fingerspitzen verleiht. Ich denke, dass diese neue Generation viel tüchtiger ist. Viele Künstler*innen produzieren sich selbst. Man braucht auch keine Plattenfirma mehr: wenn man einen guten Song hast, kann man ihn hochladen, und er könnte innerhalb von 24 Stunden viral gehen und Millionen Menschen erreichen – und das ist völlig bekloppt.

„Dieser gigantische Ozean der Mittelmäßigkeit“

Die Kehrseite der digitalen Revolution ist, dass es nun Millionen von Bands gibt, weil jeder Musik macht. Darum existiert nun dieser gigantische Ozean der Mittelmäßigkeit. So viele Neuveröffentlichungen, die nicht gut, nicht interessant sind, und das ist okay. Aber man muss eben lange warten, bis man Songs entdeckt, die wirklich bei einem hängenbleiben. Ich glaube, letztlich ist es aber so, dass Künstler*innen eben gute Songs schreiben müssen, um Wellen zu schlagen. Es muss Musik sein, die sich mit den Menschen verbindet – das haben mir die Leute schon vor 30 Jahren gesagt, und es ist immer noch so. Wenn man einen guten Song schreibt, bekommt man dafür auch Aufmerksamkeit.

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Wie hat sich die Rolle der Produzenten verändert?

Produzenten sind heute beinahe auch Manager, manche schreiben die Songs mit. Vor allem im Hip-Hop und R&B. Sie sind auch Teil des Teams; manchmal leiten sie die Künstler*innen auch, und ich glaube, das hilft sehr vielen Leuten. Viele Künstler*innen brauchen jemanden, der oder die ihnen dabei hilft, ihren eigenen Weg zu finden. Für mich besteht Produzieren zu 50 Prozent aus dem Technischen […] und die anderen 50 Prozent sind psychologischer Natur: Zu verstehen, wer Künstler*innen genau sind, was ihre Vision ist, und ihnen dann dabei helfen, dieses Level zu erreichen. Manchmal muss man sie pushen, manchmal muss man sich zurücklehnen und manchmal muss man sie ein wenig herausfordern. Mittlerweile sind vielleicht 60 Prozent davon psychologischer Natur. Dabei muss man sich in einen Kunstschaffenden hineindenken und verstehen, wer sie sind, und wie man das absolut Beste aus ihnen herausholen kann.

Sie sagten, dass die älteren Alben noch analog produziert wurden, später wechselten sie zu digitalen Aufnahmen. Wie sieht das heute aus, haben sie da Präferenzen?

Mache Aspekte des Analogen sind großartig. Wenn man so aufnimmt, kann man die Spuren eben nicht manipulieren. Man kann nichts kopieren und einfügen, wenn einem die Stimmung oder der Klang nicht gefällt. Da geht’s nur um die Performance. Dann hat das Analoge noch diesen einzigartigen Klang. Man muss es dann immer und immer wieder versuchen und wenn man was löscht, ist es für immer weg. Heute mischen wir meist eine analoge und eine digitale Version, dann wird beides zum Mastern weitergegeben, um die Vibes bei beiden Aufnahmen zu checken. Manchmal entscheiden wir uns dann für die digitale, und manchmal für die analoge Version. Das kommt auf den Kontext an – und wie der Mix letztlich ist.

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Irgendwer hat mal gesagt, dass Produzenten zu einem zusätzlichen Bandmitglied geworden sind. 

Total! […] Ich bin mittlerweile sehr vorsichtig, was diejenigen angeht, mit denen ich arbeite. Wenn ich das Gefühl habe, dass jemand seinen Scheiß nicht beisammen hat oder Negativität im Raum liegt – sowas nenne ich „Vibe-Crusher“ –, wenn es ein Reinfall ist, sich jeden Tag im Studio zu treffen und aufzunehmen, dann will ich das nicht machen. Ich möchte lieber mit Künstler*innen arbeiten, die motiviert sind und interessant und mit denen es Spaß macht, zusammenzuarbeiten. Ich will mich auch darauf freuen ins Studio zu gehen. Und ich bin so glücklich, dass ich in der Situation bin, dies einfordern zu können – dass ich mit Künstler*innen arbeiten kann, die so sind. Selbst nach Alben, die 20 Jahre zurückliegen, bin ich immer noch sehr eng mit den Menschen befreundet, mit denen ich damals gearbeitet habe.

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Sie haben auch „Nervermind“ von Nirvana produziert. Haben Sie von dem Baby auf dem Cover gehört, Spencer Elden, das mittlerweile ein erwachsener Mann ist und die Hinterbliebenen verklagt hat?

Ach, ich weiß es nicht. Für mich spricht alles dafür, dass er nur versucht, Kohle damit zu machen. Dave [Grohl] hat letzte Woche vermerkt, dass er ein „Nevermind“-Tattoo auf seinem Arm hat, also hat er es ja anscheinend akzeptiert.

Ich glaube, das Tattoo ist auf seiner Brust.

Oder so, ich meine, er hat das „Nervermind“-Foto nachgestellt – das ist Teil seines Lebens. Und jetzt sagt er, das sei Kinderpornografie? Ich glaube nicht. Für mich ist es ein Stück Kunst; ein Statement, das die Band damals machte. Aber wie auch immer. Die Anwälte werden das rausfinden.

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Wie konsumieren Sie Musik?

Ich habe erst kürzlich meine Stereo-Anlage erweitert und den Tonabnehmer meines Plattenspielers ausgetauscht, und ich höre tatsächlich eine Menge Vinyl im Moment, was ziemlich cool ist. Ich habe eine 15-jährige Tochter, und ihr gefällt Vinyl auch – aber wie jede*r andere, höre ich auch Spotify oder Apple Music. Was ich daran mag, ist, dass man in Playlisten alles Mögliche finden kann. Wenn man da ein paar Algorithmen drauf packt, die verstehen, was man gut findet, kommen jede Woche völlig neue Songs. So kann ich viele coole Band entdecken – was auch für mich sehr interessant ist, weil das vor 20 Jahren noch undenkbar war. Um guten Kram zu finden, hilft es, wenn sich manche damit befassen, die Playlisten für die Allgemeinheit zu kuratieren. Vor allem, wenn sie meinen Musikgeschmack so genau kennen. Diesen Morgen habe ich – wie heißen sie noch gleich – Wet Leg gehört! Vielleicht kennst du  „Chaise Longue“ ja? (singt den Refrain) Hör dir die an, wenn wir mit dem Interview durch sind. Ich meine, das ist eine britische Indie-Band, wir haben den Song gestern gehört und heute morgen nochmal, als ich meine Tochter zur Schule gefahren habe.

Danke für den Tipp!

Moment (sieht auf sein Telefon, tippt etwas ein): Der Song heißt „Chaise Longue“ von Wet Leg (hält das Telefon in die Kamera und zeigt die Single der Band). Hier, hör dir das an – und sieh dir am besten noch dazu das Musikvideo an!

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Mache ich! Unlängst feierte ihr drittes Studioalbum „beautifulgarbage“ zwanzigstes Jubiläum – zunächst stand es unter keinem sonderlich guten Stern. Gesundheitliche Probleme, aber auch Streitigkeiten innerhalb der Band waren während der Aufnahmen wie nach der Veröffentlichung präsent. Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung?

Nun, wir haben „beautifulgarbage“ in meinem Studio, den Maddison Smart Studios, aufgenommen. Wir waren alle ziemlich erschöpft, als wir mit den Aufnahmen anfingen, weil wir eine wirklich lange Tour für „Version 2.0“ hinter uns hatten. Ich glaube, diese Tour hat sich über 20 Monate hingezogen, und wir waren überall auf der Welt. Es war eine großartige Erfahrung, aber die Stimmung war ziemlich angespannt und wir haben uns wieder relativ schnell in den Aufnahmeprozess gestürzt. Wir nahmen uns nicht besonders viel Zeit für uns, und ich glaube, das hat uns ein letztlich gestresst. Doch wir trafen die Entscheidung, ein Album zu machen, das eklektischer klingt und Anleihen bei vielen verschiedenen Musikgenres macht.

„Es war eine schwierige Platte“

Darüber hinaus war es ein schwieriger Prozess für uns. Die Platte erschien um den Elften September herum. Es ist sehr schwer zu verstehen, dass man eigentlich eine Pop-Platte promoten muss, während man diese schreckliche Tragödie sieht, die jeden Abend auf CNN läuft. Und ich glaube, das hat dem Start des Albums etwas geschadet, weil sich zu dieser Zeit niemand wirklich für Popmusik interessierte – zumindest vorübergehend, solange wir uns in einer Art Warteschleife befanden.

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Und so begann die Platte auf einer harten Basis: Shirley [Manson] hatte einige Probleme – sie ließ sich scheiden. Ich wurde krank, bekam Hepatitis A auf der Tour. Wir mussten also jemanden finden, der für mich einspringt. Mit „Version 2.0“ kamen wir gut voran, und als „beautifulgarbage“ herauskam, stellten sich uns eine Menge Hindernisse in den Weg. Es war eine schwierige Platte. Aber rückblickend denke ich, dass es eine unserer Lieblingsplatten ist, weil wir stilistisch das erreicht haben, was wir uns vorgenommen hatten. Wir wollten all diese verschiedenen Genres mit dem vermischen, was wir als Garbage schaffen konnten.

In früheren Interviews haben Sie eher zurückhaltend auf die Meinungen ihrer Fans reagiert. Andererseits haben die Kritiker das Album gelobt. Der ROLLING STONE zum Beispiel hat es als eines der „Top 10 Alben des Jahres“ bezeichnet. Wie sehen Sie das heute?

Nun, danke ROLLING STONE (hebt den Daumen in die Kamera).Wir haben eine Menge Exemplare von unserem ersten und zweiten Album verkauft – die Fans wollen irgendwie, dass man sich möglichst nicht verändert. Ich glaube, einige Fans sind zunächst vorm Sound von „beautifulgarbage“ abgeschreckt, aber viele unserer Hardcore-Fans sind im Laufe der Zeit darauf zurückkommen, und ich glaube, dass sie die Platte wirklich mögen. Es ist auch interessant, dass jedes Land eine andere Sichtweise auf die Platte hatte, und ich meine, „Shut Your Mouth“ war die erste Single, die in Großbritannien veröffentlicht wurde – „Breaking Up the Girl“ oder „Androgyny“ hier in den USA, und so hat jedes Gebiet sein eigenes Ding gemacht, so dass es sich in gewisser Weise zersplittert anfühlte. Vielleicht so wie der Sound des Albums, aber wie ich schon sagte, war das Album an einigen Orten unerwartet erfolgreich, wie zum Beispiel mit der Single „Cherry Lips“, die in Australien, Japan und, ich glaube, in einigen Ländern in Europa eine Nummer eins war und so weiter.

In Großbritannien auch.

Genau, und wir wussten nicht mal was davon. Es war für uns einfach nur dieser bekloppte Pop-Song den wir in der USA produzierten.

Und „Cherry Lips“ war wiederum in den USA keine Single.

Ich glaube auch nicht, dass „Cherry Lips“ in den USA als Single rauskam, was eine Schande ist, weil wir den Song immer noch gerne live spielen.  Der Song war tief inspiriert von einem Buch von TJ LeRoy, oder? Das hat uns mit dem Publikum verbunden, und ich habe das Gefühl, dass es immer noch nachhallt. Eigentlich witzig, dass es nie eine Single in der USA wurde.

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Es ist schon interessant, wenn man zurücksieht und sich die Aufnahmen anhört – was wir zwangsläufig taten, als wir es remasterten. Wir nahmen alles mit ProTools auf, druckten es dann aber auf analoge Tapes. Es war schön, in diese Zeit zurückzukehren. Was auch interessant ist, ist dass wir fast alle der Songs irgendwann auch live spielten. Auf der Bühne ändert man vieles, dass Arrangement, manchmal wird der Song schneller, manchmal wechselten wir die Tonart, wodurch die Stücke zu anderen wurden. Wenn man dann zurück ins Studio geht und sich die Original-Aufnahmen anhört, kommt manchmal der Moment: „Wow, ich hab total vergessen, dass wir dies gemacht haben, oder wie wir diesen Klang kreierten.

Wie war der Prozess des Remasters von „beatifulgarbage“? Gab es Unterschiede zur Neuveröffentlichung der vorherigen zwei Alben?

Schwer zu sagen, das Album war so ein eigenartiges Werk. Das erste [„Garbage“] wurde noch auf 24 Spuren aufgenommen; wir haben damals kein ProTools benutzt, wie man es heute üblicherweise macht. Und beim zweiten Album [„Version 2.0“] benutzten wir ProTools zum ersten Mal. Dabei sind wir dann komplett durchgedreht – manche Songs hatten im ersten Anlauf mehr als 200 Spuren, weil wir meinten: „Lass uns doch hier noch ein bisschen mehr Gitarre aufnehmen, lass uns hier noch ein paar weirde Geräusche einfügen.“ Der Mixingprozess war super hart. Auf „beautifulgarbage“ haben wir es dann irgendwie geschafft, dass jeder Song seinen ganz eigenen Vibe hat.

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„Can’t Cry These Tears“ zum Beispiel hatte was von Phil Spector oder Girl Groups der 60er. Wie The Shangri-Las. Oder „Androgyny“ und „Untouchable“: Darin plantschten wir ein bisschen mit R&B, und „Cherry Lips“ hat diesen schrägen Funk Groove. Wir packten all diese Elemente zusammen, und das machte es wohl einfacher, die Platte aufzunehmen, weil wir ungefähr wussten, wohin unsere Songs gehen sollten.

In einem Interview von 2017 mit Shirley Manson und Ihnen haben sie beide erwähnt, dass der Produzent Timberland das Album beeinflusst hat.

Es sind auf jeden Fall Songs drauf, auf denen man erkennt, dass wir seine Arbeit schätzten, und auch die von zum Beispiel Missy Elliot. Ich meine, nimm den ersten Track „Shut Your Mouth“, auf dem sich Shirley beinahe durch die Verse rappt. Und dieser schräge, geschmeidige Funk, aber mit den, naja, verzerrten Drums hier und da. Ich meine, Timberland hat sein Ding gemacht, und wir waren dabei uns stilistisch und klanglich auszuprobieren. Irgendwo haben wir auch versucht, diesen Radio-Sound auf „beautifulgarbage“ zu bringen.

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