ROLLING STONE hat gewählt: Die Alben des Jahres 2023

ROLLING STONE blickt zurück auf das Musikjahr 2023 – und wählt die 50 besten Alben des Jahres.

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Ahnoni And The Johnsons

Zu den verstörend schönen Liedersammlungen der Nullerjahre, ist das Pathos der Utopieverkäufer, alles möge mit nur etwas Wagemut schon besser werden, fremd. „It Must Change“ postuliert die Notwendigkeit zum Wandel. Aber die fast völlige Abwesenheit von Harmoniewechseln deutet schon an, dass es sich eher um einen Traum von Veränderung handelt, der verfliegen mag wie eine Sternschnuppe. „We’re not getting out of here/ That’s why this is so sad/ No one’s getting out of here/ That’s why this is so sad“, heißt es fast lakonisch darin. Bitternis schwingt in diesem Song genauso mit wie die Vorstellung von Erlösung von den Qualen (was im Anohni-Kosmos immer auch die Sichtbarmachung davon ist, dass Menschen Leid zugefügt wird, weil sie anders sind): In dem Moment, da die Trauer akzeptiert werden kann, nehmen die Dinge einen anderen Lauf.

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Die englische Songwriterin, die sich von New York adoptieren ließ, vertraute das musikalische Fundament für „My Back Was A Bridge For You To Cross“ dem Produzenten und Gitarristen Jimmy Hogarth an, der in der Vergangenheit schon für Amy Winehouse arbeitete und hier, gemeinsam mit dem Streicherarrangeur Rob Moose, für eine mal rasiermesserscharfe, dann wieder fast balladeske Tenderness sorgt, die mühelos an den Soul von Sam Cooke und Marvin Gaye anschließt. Fürwahr, dieses Album ist ein „What’s Going On“ für das 21. Jahrhundert. Der Tenor ist so klar wie widersprüchlich: Es ist alles wund, aber Aufgeben ist keine Lösung.

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Das Cover der LP ziert Marsha P. Johnson, jene Dragqueen, die Anohni zum Namen ihrer Band inspirierte – und die 1969 als erste queere Person mit Steinen nach einem Polizisten warf, um für ihre Freiheit zu kämpfen. Immer wieder scheinen Lichtblicke auf, die sofort wieder von dunklen Wolken verdrängt werden. In „Can’t“ will Anohni die Toten nicht aus dem Leben entlassen, in „Why Am I Alive Now?“, dem schönsten, verwinkelsten Song auf dieser sehr üppig klingenden Platte, fragt sie sich, warum ertragen werden muss, wie die Welt vor aller Augen blutet. Die Sängerin begibt sich hier nach dem elektronischen Furor des zuweilen ins Nihilistische abdriftenden Vorgängers „Hopelessness“ mutig in eine andere Welt, vielleicht gar in jene, die sie in „Another World“ schon vor vierzehn Jahren erbat. Sie eignet sich den spirituellen schwarzen Soul der 60er- und 70er-Jahre an, allerdings über die kühle Verformung durch weißen Blue-Eyed Soul. Ergreifend wird dies aber erst durch die Anreicherung mit jener Suche nach Würde, die der Musik von Nina Simone und Aretha Franklin eigen ist. Anohnis Themen haben sich derweil nicht geändert: „Scapegoat“ erzählt davon, wie trans Menschen dem Hass ausgeliefert sind, einfach weil sie so sind, wie sie geboren wurden. Über fast allen Liedern schweben ein Hauch Zorn und Unsicherheit sowie die Vorstellung eines hilflosen Kampfes gegen gesellschaftliche Schieflagen und die Zerstörung der Natur. Dabei vermeidet Anohni eine missverständliche Klarheit der Ansprache, sie webt ihren Aufruf zu mehr Widerstandskraft im Zeichen des Verfalls in eine poetische Sprache, vorgetragen von einer zittrig-wimmernden Stimme, die bei aller Klagebereitschaft auch das Süßliche nicht verfehlt („Sliver Of Ice“), aber oft ebenso von schneidender Unruhe geprägt aus sich heraustritt, etwa in der kurzen Lärmsequenz „Go Ahead“ oder im dämonischen Donner von „Rest“. Vielleicht ist es kein Zufall, dass „My Back Was A Bridge For You To Cross“ am selben Tag erschien wie PJ Harveys „I Inside The Old Year Dying“. Beide Sängerinnen sind Geisterbeschwörerinnen, hochbegabt darin, ihre Kunst aus dem Inneren zu schöpfen und dabei Unheil zu etwas, ja, Schönem umwandeln zu können. Anohni tut dies mit Anklängen an einen Sound, der aus einer Zeit stammt, als innere Beweggründe zumeist keinen öffentlichen Ausdruck finden durften. Aber sie lässt dies auch mit der Pose einer Musikerin geschehen, die sicher weiß, dass sie mit ihrem Kampf für mehr Resilienz und für eine alchemistische Verwandlung von Pein in Zärtlichkeit bei jenen auf offene Ohren trifft, die von der allgegenwärtigen Präsenz von hochgepeitschten Emotionen in einer hypermodernen virtuellen Gesellschaft für die eigenen Gefühle immer tauber werden. (Marc Vetter) Bester Song: „Why Am I Alive Now?“‘.

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