ROLLING-STONE-Reportage

Virtual Reality: Alles so schön echt hier

Die Zukunft der Menschheit liegt in der virtuellen Realität. Das behaupten jedenfalls tonangebende Tech-Visionäre. Aber was sieht man wirklich, wenn man sich diese komischen Brillen aufsetzt?

Mit Stewardesslächeln gleiten die Mitarbeiterinnen durch die Reihen und justieren ein letztes Mal die Technik; die Szene wirkt, als sollte gleich eine Handvoll Auserwählter auf einen besseren Planeten geschossen werden. Tatsächlich eröffnet die DJ-­Reihe „Boiler Room“ ihre erste Clubnacht im virtuellen Raum. „Wir möchten die Clubkultur demokratisieren und sie allen Menschen auf der Welt zugänglich machen“, erklärt der Chef der VR-Dancefloors Experience, Steve Appleyard, den geladenen Gästen. „Techno für alle“ ist das neue „Brunnen für Afrika“, so scheint es.

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Triste Fantasie eines Taschendiebs

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Nüchtern betrachtet wirkt die Szenerie eher wie eine triste Fantasie eines Taschendiebs: Rund ein Dutzend Hipster sitzt mit krummem Rücken auf der Tanzfläche des Berliner Clubs Arena. Blickdichte Brillen und Kopfhörer haben sie völlig von der Außenwelt abgeschottet. Es ist 19 Uhr. Draußen scheint noch die Frühlingssonne, unter den Brillen pulsiert die virtuelle Realität – kurz VR – einer Clubnacht: 150 Raver feiern ausgelassen zu einem pumpenden Live-Set. Mit einem Controller in der Hand zappen sich die unsichtbaren Zaungäste durch die Räume des virtuellen Clubs, es gibt eine Chill-out-Area und sogar einen Dark­room, in dem aber weder Drogen gedealt noch Körperflüssigkeiten ausgetauscht werden. In der digitalen Dimension ist nichts dem Zufall überlassen. Die gerade mal 15-minütige Party wurde zuvor mit Statisten abgedreht, von denen einige – zwei angebaggerte Freundinnen, eine Partykanone im Hasenkostüm – sogar einem Skript folgten. Als der erste Break einsetzt, reißt das gemietete Partyvolk jubelnd die Arme nach oben, ganz im Gegensatz zu den schweigenden Beobachtern im echten Paralleluniversum, die in eine abwesende Starre eingerastet sind irgendwo zwischen Rodins Denker und einem an lebenserhaltende Maschinen angeschlossenen Komapatienten.

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Nichts mehr wird so sein wie früher

Seit knapp zwei Jahren kocht der Hype um die virtuelle Realität als Geschäftsfeld der Zukunft am Siedepunkt, fast täglich gibt es neue Anwendungen und Start-ups. Firmen wie Facebook investieren in eigene VR-Abteilungen, in den Schubladen stapeln sich die Patente. Festivals, Sportereignisse, Freizeitparks, Theater- und Kinobesuche, Einkaufstouren, Immobilienbesichtigungen, Messen, Ausstellungen, Urlaubsreisen, Social-Media-Plattformen, Computerspiele und alle denkbaren Arten der Pornografie werden nie mehr so sein wie früher, glaubt man den Prophezeiungen der VR-Euphoriker. Dabei sind die Ergebnisse meist noch eher ernüchternd: Mangelnde Grafikqualität und Bandbreite lassen die Optik oft holprig und verschwommen erscheinen. Auch handelt es sich bei den meisten fotorealistischen Inhalten, die als virtuelle Reisen angepriesen werden, in der Regel nur um 360°-Videos, die dem Zuschauer zwar einen verblüffenden Rundumblick ermöglichen, ihn aber ansonsten auf eine statische Beobachterposition festnageln. Wurde die Technik vielleicht doch zu früh auf den Markt gebracht?

„Die Erlebnisse sind so intensiv, dass VR das herkömmliche Kino in den nächsten Jahren verdrängt haben wird“

„Dass man sich frei durch virtuelle Welten bewegt, wie es in der Werbung suggeriert wird, ist im Hausgebrauch tatsächlich noch nicht machbar“, erklärt Thomas Pilar, der ansonsten eher nicht zu den Skeptikern des Booms zählt. Der bärtige Jungunternehmer hat bereits mehrere Start-ups gegründet und mit Gewinn weiterverkauft. „Virtual Reality ist eine sehr spannende, vielversprechende Branche“, sagt er. „Es herrscht großer Optimismus. Und es fließt sehr viel Geld.“ Pilars neuestes Projekt heißt VR Box: ein Virtual-Reality-Kino, in dem bis zu 50 Besucher gleichzeitig auf drehbaren Spezialsesseln fremde Welten erforschen sollen. „Die Erlebnisse sind so intensiv, dass VR das herkömmliche Kino in den nächsten Jahren verdrängt haben wird“, so Pilar. Wenn eine geeignete Location gefunden ist, sollen in der VR-Box auch regelmäßig virtuelle Konzerte gezeigt werden. „Man will seinem Star ja möglichst nahe sein. Deshalb denke ich, dass das Medium auch perfekt für Musik geeignet ist.“ Spätestens in zehn Jahren würden virtuelle Konzerte das ultimative Erlebnis für Musikfans sein.

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Content Is King

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Bands wie Depeche Mode und die Red Hot Chili Peppers haben bereits eigenen 360°-Content in Umlauf gebracht. Am meisten Geld wird bislang jedoch nicht von der Musikindustrie investiert, sondern „von Gamern, die als Early Adopter viel Zeit mit der Technik verbringen“, so Pilar, der selbst oft mehrere Stunden am Stück VR-Spiele spielt. Und der potenzielle Massenmarkt wartet die Entwicklung zögerlich ab. Von den ausgereiftesten Desktop­geräten Oculus Rift, HTC Vive und Play­Station VR sind im Boomjahr 2016 weltweit gerade einmal knapp zwei Millionen Stück verkauft worden, kein Vergleich zu anderen Tech-Innovationen wie dem iPhone. Auch inhaltlich haben sich die nachhaltigsten Formate noch nicht herauskristallisiert. „Jeder Hersteller will sich sein eigenes Ökosystem erschaffen. Wer den Content mit der größten Immersion hat, bekommt am Ende aber auch die User“, glaubt Pilar.

VR-Brillen und Kotztüten

„Immersion“ bezeichnet das Gefühl des Eintauchens, das im besten Fall so überzeugend ist, dass die simulierte Umgebung als real empfunden wird. Langzeiteffekte sind dabei noch kaum erforscht. Einige Menschen reagieren mit „motion sickness“: Weil sich die Sinneswahrnehmungen nicht immer mit den Gegebenheiten der programmierten Umwelt decken, kann es zu Schwindel- und Beklemmungsanfällen kommen wie bei Seekrankheit. Auf vielen VR-Präsentationen werden zur Brille deshalb gleich noch Kotztüten gereicht.

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Andere neu kreierte Begriffe wie „Post-Virtual-Reality-Syndrom“ oder „VR-Hangover“ umschreiben die Gefahr, in virtuellen Welten den Boden unter den Füßen zu verlieren. Auf Reddit und in anderen Onlineforen berichten User, dass ihnen die Realität jenseits der Brille bereits grau und bisweilen irreal erscheine. Besonders der erste Moment nach der Rückkehr sei eindringlich, ein Abgleichen und Zurückfinden: „Ach ja, genau: Hier komme ich her!“ Ein Kommentator verweist auf die berühmte Anekdote aus dem chinesischen Philosophie­klassiker „Zhuangzi“, in dem der weise Zhuang Zhou nach dem Aufwachen nicht mehr weiß, ob er eben träumte, ein Schmetterling zu sein, oder ob er vielleicht ein Schmetterling ist, der gerade träumt, Zhuang Zhou zu sein. Allein die schiere Science-Fiction-Qualität der Virtual Reality (der Begriff geht auf Damien Brodericks SF-Roman „The Judas Mandala“ aus dem Jahr 1982 zurück) provoziert Alarmismus: Wie soll man einen Heranwachsenden davon überzeugen, etwas aus sich zu machen, wenn er in einer Parallelwelt bereits Super­kräfte besitzt? Und was ist, wenn labile Nutzer hier wie dort Gewalt-und Allmachtsfantasien ausleben, weil sie die echte Welt nur für eine weitere technisch evozierte Halluzination halten?

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Zu Besuch bei Illusion Walk

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„Wir müssen ethische Standards für den verantwortungsvollen Umgang mit der Technik schaffen“, sagt Julien Rüggeberg vom Berliner Start-up Illu­sion Walk. Zusammen mit seinem Bruder Jim arbeitet der 40-Jährige daran, die größte Hürde für bahnbrechende VR-Formate zu nehmen: Illu­sion Walk möchte den virtuellen Raum tatsächlich begehbar machen – und zwar als Gemeinschafts­erlebnis. Dafür haben die Unternehmer eine Büro­etage im Berliner Westen gemietet, ihr „Echtzeit-Holodeck“: 150 Quadratmeter, die den Eindruck erwecken, als wäre das 15-köpfige Team gerade erst eingezogen. Bis auf den staubigen Teppichboden sind die Gänge und Räume leer. Nur an der Decke und den Wänden hängen kryptische Quadrate mit QR-Codes. Sie tracken die Bewegungen der mit portablen Rucksackrechnern und VR-Brillen ausgestatteten Nutzer und übertragen ihre Körper als Avatare in den virtuellen Raum. Dass man dabei nicht ständig gegen echte Wände prallt, liegt daran, dass die fantastischen Welten in Echtzeit über die vorhandene Umgebung gestülpt sind. Büro­türen öffnen sich zu Portalen. Leere Flure werden zu rußigen Tunneln. Ein Aufzug führt auf die Aussichtsplattform einer Bohrinsel. Meeresrauschen in der Tiefe. Ein leichter Wind geht durchs Haar. Trockener Rauch weht aus dem Maschinenraum herüber. „Drehen Sie sich um!“, sagt Rüggebergs Avatar, der durch die Erfahrung führt. Über uns bricht plötzlich eine giftiggrüne Gewitterwolke auseinander. Aggressiv blinkende Raumschiffe schießen daraus hervor, umkreisen die Plattform wie Hornissen. „Bloß weg hier!“ Aber wie?

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Es ist nur eine von mehreren Schrecksekunden der 15-minütigen Experience, die das Start-up zu Demonstrationszwecken entwickelt hat. „Wir hatten kürzlich einen Besucher hier, der sich fast die Brille vom Kopf gezogen hätte. Er brauchte einen Moment, um seine Höhenangst zu überwinden, obwohl er wusste, dass das alles nicht echt ist“, erinnert sich Rüggeberg. Nimmt man das Headset ab, fühlt man sich tatsächlich ähnlich fundamental hinters Licht geführt wie Neo im Film „Ma­trix“, nachdem er die rote Pille geschluckt hat. Die drei­dimensionale Benutzeroberfläche, die man eben noch befingerte, um in die nächste Welt zu flüchten, war in Wahrheit nur die Plexiglasober­fläche eines leeren Bilderrahmens. Der rote ­Buzzer, der die Schiebetüren zum Kommandodeck eines Raumschiffs öffnete, war nur ein Holzstab mit Plastikknubbel. Der Aufzug, der mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Höhe schnellte, war nichts weiter als eine vibrierende, im Nebenraum versteckte Holzkiste. Eine Reihe Ventilatoren hatte für den Windeffekt gesorgt, eine kleine Nebelmaschine für den rauchigen Geruch.

Der Autor im virtuellen Duell bei VR-Box

„Irgendwann haben die Leute genug Zombies abgeschossen“

Auch wenn die Technik noch nicht bis ins Detail ausgereift ist, begreift man bei Illusion Walk, was für ein mächtiges Medium hier gerade sein Potenzial entfaltet. „Weil die virtuelle Welt als sehr real empfunden werden kann, wollen wir den Nutzer nicht völlig unter Adrenalin setzen“, sagt Rüggeberg. „Wir wissen schließlich nicht, wie sich diese Eindrücke auf die Psyche auswirken und wie lange sie dort nachhängen.“ Gerade arbeitet das Unternehmen mit der TU Berlin an einer Studie, die die physischen und psychischen Langzeiteffekte untersuchen soll. „Egal wie die Ergebnisse ausfallen, mit grauen Haaren soll keiner aus der Erfahrung rausgehen“, sagt der CEO. Ein bisschen dosierter Nervenkitzel sei jedoch in Ordnung, zumal Illusion Walk sich im Gegensatz zum US‑­Konkurrenten The Void nicht für Ballerspiele oder Horror­szenarien öffnen will. „Irgendwann haben die Leute genug Zombies abgeschossen und wollen etwas Spannenderes, Komplexeres erleben. Wir wollen gute Geschichten erzählen. Das ist unser Ansatz.“ Bei der Berlinale haben die Macher interessierten Filmemachern bereits ihre Technik vorgeführt. „In der Filmbranche hat man das Potenzial von VR erkannt, aber auch gemerkt, dass Geschichten hier ganz anders erzählt werden müssen. Klassische Techniken wie Kamera­fahrten greifen nicht, da der Nutzer sich ja selbstständig im Raum umsieht.“ Auch der Sound stelle sie immer noch vor Herausforderungen, sagt Rügge­berg. „Mindestens ein Drittel der Immer­sion hängt von einem realistischen Klang ab. Das ist nicht leicht zu machen.“

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Musik als Motor der Virtuellen Realität

Auch für Chris Milk steht und fällt die virtuelle Realität mit dem Klang, ja mehr noch: mit der Musik. „Musik kann dich durch Raum und Zeit reisen lassen, und das ist genau das, was VR als Kunstform besonders auszeichnet“, erklärt der 41-jährige Multimedia­künstler. Vor seiner Karriere als CEO der VR-Content-Firma Within drehte er Musikvideos, in die der Nutzer damals schon eingreifen konnte. Für Ar­cade Fire erschuf er 2010 den Kurzfilm „The Wilderness Downtown“, in dem die eigene Straße via Google Maps zum Teil der Handlung wird. Für Beck entwickelte er ein interaktives Konzertvideo, das über die PC-Webcam Kopf­bewegungen registriert und je nach Blickwinkel zur Bühne simultan den Raumklang verändert. „VR ist die Zukunft des Erzählens, weil sie so direkt übersetzen kann, wie wir fühlen, wie wir träumen und wie wir denken. Zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir jedoch erst noch die Grammatik lernen, bevor wir sie wie eine flüssige Sprache sprechen können“, sagt Milk, der bereits im Alter von sechs Jahren von seiner Mutter das Programmieren lernte. Niemals sei eine Kunstform imstande gewesen, dem Menschen so nahe zu kommen, führt er weiter aus. „VR ist faszinierend, weil sie im Gegensatz zu anderen Medien keine Übersetzungsleistung braucht, sondern direkt mit dem Bewusstsein interagiert.“

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Die echte Welt mithilfe der virtuellen zu einem besseren Ort machen

Die an die neue Technik geknüpften Hoffnungen haben in ihm ihren größten Fürsprecher gefunden. In einem euphorischen Vortrag auf der Innovationskonferenz TED erklärte der Regisseur das Medium gar zur ultimativen Empathiemaschine; ein verzückter Tech-Messias, der die echte Welt mithilfe der virtuellen zu einem besseren Ort machen möchte. Mehrmals reiste Milk dafür in Krisengebiete, etwa ein syrisches Flüchtlingslager in Jordanien oder in das von Ebola gezeichnete Liberia, um dort mit 360°-Kameras das Elend aus allen Winkeln einzufangen. Anschließend ließ er sein Team beim Weltwirtschaftsforum in Davos VR-Brillen an Politiker und andere Entscheidungsträger verteilen, in der Hoffnung, die immersiven Nahaufnahmen würden Mitgefühl wecken, wo normale Nachrichten schon lange nicht mehr wirken. Seine VR-Dokumentationen kommen dabei mit wenig Handlung aus. Bei Inhalten, die der Nutzer im eigenen Tempo erforscht, würde zu viel Information nur ablenken und zu viel Action verstören. Stattdessen lässt Milk die Musik die Dramaturgie steuern, zum Beispiel indem er den Nutzer mit an- und ab­schwellenden Pianoklängen langsam in den Alltag eines 12-jährigen Flüchtlingsmädchens hineinzieht. „Mit dem richtigen Einsatz von Musik erschafft man die emotionale Bühne einer Geschichte, das ist ähnlich wie in anderen Me­dien, wirkt in diesem Kontext aber noch viel unmittelbarer und tiefgreifender.“

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Vernichtungslager als virtueller Gedächtnis­ort

Zuletzt unterstützte Milk als Produzent den VR-Film „The Last Goodbye“, eine Koproduktion mit der Shoah Foundation, die Ende April beim Tribeca-­Filmfestival gezeigt wurde. In der von ­Gabo Arora und Ari Palitz gedrehten Dokumentation begleitet man den Holocaustüberlebenden Pinchas Gutter durch das Vernichtungslager Maj­danek, in dem der heute 85-Jährige seine Eltern und Geschwister verlor. Unter der VR-Brille erlebt der Nutzer die beklemmende Enge der Waggons und der Gaskammern. Ob so ein begehbarer Gedächtnis­ort notwendig aufklärerisch wirkt? Oder überschätzen seine Erschaffer nicht doch das Gute im Menschen? Denn während das neue Medium in der Therapie und Stressbewältigung bereits erfolgreich eingesetzt wird, sind natürlich auch Inhalte denkbar, die gegenteilige Wirkungen erzeugen, zum Beispiel ihre Nutzer durch Gewaltfantasien abstumpfen lassen oder rassistische Aggressionen schüren. „Ein altes Sprichwort sagt, dass mit großer Macht große Verantwortung einhergeht“, erwidert Chris Milk. „Das gilt im besonderen Maße für VR. Die Möglichkeiten sind so endlos wie unsere Vorstellungskraft. Deshalb müssen wir aufrichtig mit den menschlichen Sinneseindrücken umgehen und Erfahrungen schaffen, die die Menschen miteinander verbinden. Die Verantwortung ruht auf unseren Schultern.“

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Wird uns Musik, die nicht im 360°-Surroundsound um uns herumtost, flach und nichtssagend erscheinen?

Wie die Technik unser Leben verändern wird, wenn die klobigen Brillen erst einmal durch Kontaktlinsen ersetzt sind und realistische, begehbare VR-Welten die Grenzen zur Realität verwischen, können wir uns heute kaum vorstellen. Werden wir verlernen, Kino- oder Konzertbesuche als gemeinschaftliche Aktivität zu begreifen? Werden wir unseren Lieblingsbands die Gitarren aus der Hand reißen oder gleich in ihre Körper schlüpfen können? Vielleicht verändert das spektakuläre Medium am Ende auch einfach nur unsere Hörgewohnheiten. Und Musik, die nicht im immersiven 360°-Surroundsound um uns herumtost, wird uns flach und nichtssagend erscheinen.

Oliver Moertl VR BOX
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