Coldplay: Geschichte einer enttäuschten Liebe

Zwei trostvolle Alben für die Ewigkeit - und dann kam die schrittweise Hinwendung zum Plastikpop: Coldplay haben ihre Seele anscheinend an den Kommerz verkauft. Das ist jammerschade.

Was ist nur aus dieser Band geworden, die einmal so treffend den „Trouble“ nach der verloren gegangenen Liebe besang, sich in die Gehirnwindungen eines Wissenschaftlers vergraben konnte, das erbarmungslose Verstreichen der Lebenszeit in eine grelle Klavier-Tanz-Nummer überführte und den Titel eines ihrer kürzesten und schönsten Songs dem goldenen Mantra eines Kultbuchs für Nerds und Studenten entlieh?

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Ich muss zugeben, dass ich an Coldplay verzweifle. Ich kann nicht begreifen, wie es möglich sein kann, dass vier doch recht begabte Typen, die einen Haufen unsterblicher Lieder geschrieben haben, plötzlich aufgehört haben, Musik zu machen. Oder wenigstens Musik, die berühren will. Wie sensibel waren die Welt- und Selbstbeobachtungen dieser Band einmal. Inzwischen werden ihre Songs von einer selten geschmackssicheren Sentimentalität angetrieben.

Man nehme dagegen nur „Such A Rush“, einen der Tracks, den die Briten 1999 auf ihrer längst vergriffenen EP mit dem so wunderbar treffenden Namen „The Blue Room“ veröffentlichten: „Such a rush to do nothing at all“, singt, nein: fleht Martin zu kühlen, verhaltenen Gitarrenklängen, bis er von nervösem Schlagzeugeinsatz begleitet in eine immer dringlicher werdende Klage über die nur noch dem Geldfluss hinterhereilende Menschheit übergeht.

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Musik von Millionären

Coldplay, so scheint es, sind längst selbst diesem Geldfluss erlegen. Mit mehr als 80 Millionen verkauften Tonträgern gehören sie schon lange zu den Großen im Geschäft, deren Umsätze den Aktionären ihrer Plattenfirma zuverlässig eine schöne Weihnachtsdividende verschaffen. Zu den unangenehmen Folgewirkungen gehört allerdings auch, dass man das der Musik von Platte zu Platte mehr angehört.

Von „X&Y“, der noch von melancholischen Hymnen bestimmten, eher luftigen als schwierigen dritten Platte bis zu „A Head Full Of Dreams“ kann man, wohl vom Ausreißer „Everyday Life“ abgesehen, die Entwicklung einer Gruppe beobachten, die ihre künstlerische Idee, ihr musikalisches Leitbild, zugunsten eines planlosen Zusammenquirlens von Popstandards und Performance-Trends vollkommen aufgegeben hat.

Ich kann mich noch genau an diesen Moment erinnern, als ich das erste Mal „Don’t Panic“ hörte. Diese sanfte Schwermut, Chris Martins warme, sehnsüchtige Stimme, die gegen alle Widerstände des Lebens ausgerufene Hoffnung: „We live in a beautiful world, yeah we do“ – so einfach, so klar umschrieben Coldplay die nicht immer leichten Tage meines Teenagerdaseins. Ich fühlte mich verstanden. Anderen ging es wohl auch nicht anders; man muss sich nur noch einmal an die schöne Anfangssequenz von Zach Braffs „Garden State“ erinnern, wenn der einsame Held in seinem Bett mit weit geöffneten Augen an die Decke starrt und dazu eben „Don’t Panic“ erklingt. Mehr musste nicht gesagt werden.

Ode To Deodorant

Coldplay standen nie für komplexes Songwriting. Viele Texte sind sogar erschreckend schlicht. Nur besteht der Unterschied von sagen wir „In My Place“ und „A Head Full Of Dreams“ darin, dass das zur Schau gestellte Leiden an der Welt (vertont wohl auch durch Martins wolfsähnliches Geheul auf vielen früheren Liedern) nun der Feier eines mehr als einmal leeren Pop-Optimismus‘ gewichen ist. Alles will hier bunt sein, groß, immer noch versöhnlich, doch eher auf eine alle Zweifel aus der Welt tänzelnde Art. Dabei ist es doch vor allem Martins mal wimmernde, mal energisch quengelnde Stimme, die das Markenzeichen der Band geworden ist. Aus irgendeinem Grund vertraut die Gruppe aber nicht mehr auf sein Stimmorgan – zuverlässig wird es in einer manchmal unerträglichen Sound-Sauce weich gekocht.

Als sich die Briten vor etwas mehr als 19 Jahren am University College in London kennenlernten, waren sie – nach eigener Aussage – eine Truppe von uncoolen Studenten, die eigentlich nicht wirklich Lust hatten, ihr Studium zu beenden (was dann auch keiner der vier tat). Stattdessen wollten sie lieber ihre Adoleszenz um ein paar Jährchen verlängern und gründeten etwas unbeholfen die Gruppe „Starfish“. Ein Name, der damals nicht wirklich zu ihrer von Echo & The Bunnymen und später auch Travis geprägten Musik passen wollte.

Deshalb hörte Martin auf den Rat seines Freundes Tim Rice-Oxley, seine Band in ‚Coldplay’ umzubenennen, weil dies doch wie die Faust aufs Auge zu den schwermütigen Klangteppichen und wehmütigen Balladen passen würde. Rice-Oxley wäre übrigens fast  zum Keyboarder und fünften Mitglied der Band geworden, wenn er nicht mit Keane selbst den Weg in die Charts geschafft hätte („Hopes And Fears“).

Bis Coldplay mit „Parachutes“ aus dem Stand der Durchbruch gelang – 2000 brachte man schon beim ersten Auftritt auf dem Glastonbury mit „Yellow“ die Masse zum traumverlorenen Tanzen –, war es von Tracks wie „Ode To Deodorant“ (kein Witz!) zu tatsächlich gravitätischen Oden wie „Sparks“ein weiter Weg. Diese Musik drückte mit jedem einzelnen Akkord aus, dass sie an all die vermeintlich Uncoolen, die Verlierer und Gescheiterten, die unverbesserlichen Weltschmerzler gerichtet war. Und wenn einige von Leonard Cohen, Neil Young, Nick Drake, Nick Cave, Elliott Smith und R.E.M. vielleicht noch nichts gehört hatten, dann ermöglichten Coldplay möglicherweise für mehr als nur ein paar Menschen den Einstieg in die Welt des tröstlichen Pop.

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Die Traurigen tanzen nicht

Ich kann mich noch sehr genau an einen Moment erinnern, der für mich auf ewig DER Coldplay-Moment sein sollte: Auf einer dieser schulischen Ski-Fahrten, bei denen man reichlich unsicher auf Brettern Abhänge hinunter schlittert, im Grunde aber eigentlich nur allabendlich versucht, leicht alkoholisiert dem anderen Geschlecht näher zu kommen, versammelte sich die Schülerschar in einer Art Dorfdisco. Nachdem die üblichen R&B-Nummern und auch „Smells Like Teen Spirit“ gespielt waren und das Abspielen der furchtbarsten Schlager noch einige Stunden entfernt war, erklang das Piano von „Clocks“. Auf einmal leerte sich die Tanzfläche und die Musik verhallte im Nichts. – Hätte man denken können. Doch während ich den Worten „Confusion never stops/Closing walls and ticking clocks /Gonna come back and take you home/I could not stop that you now know, singing“ lauschte und die Augen fest schloss, sah ich, als ich sie wieder für einen Moment öffnete, dass es nicht nur mir so ging. Doch das Parkett blieb leer. Die Traurigen tanzen nicht.

„A Rush Of Blood To The Head“ war schon eine Platte für alle – sie zwang aber der Mehrheit für einen Moment Festgesänge auf, die von den Gefühlen einer verunsicherten Minderheit kündeten. Da waren Songs mit so großartigen Titeln wie „God Put A Smile On My Face“ und introvertierte Balladen, die, warum auch immer, „Amsterdam“ hießen. Lieder, die man weinend hören konnte, wenn man von der Liebsten verlassen wurde. Oder unter dem Bettlaken, wenn die Welt sich wieder bedrohlich verschob.

Man darf das nicht vergessen: Colplay konnten einmal große Dramen im Fünfminutenformat abliefern („Politik“) und Martin sang so banale Zeilen wie „Yeah the truth is/That I miss you so“ derart beseelt, dass man dem Kerl diese Gefühle wirklich abnahm. Inzwischen heißen die Stücke „Fun“ und „Magic“ und Alben wie „Mylo Xyloto“ kommen mit blödsinnigen narrativen Konzepten daher. Dabei hatte Brian Eno ihnen doch beigebracht, nicht mehr gemeinsam zu Mittag zu essen und statt in Tönen in Farben zu denken.

Nach „Talk“ (mit dem Coldplay, nun ja, kongenial-dreist Kraftwerk beliehen) und „Fix You“ (dem reichlich angedickten Trennungsschmerztralala, das wohl auf ewig in den Playlists junger Liebender auftauchen wird) kann man durchaus verstehen, warum die Band im Anschluss an „X&Y“ versuchte, einen anderen Stil zu finden. Vielleicht hatten die Musiker erkannt, dass ihr Weltschmerz schal geworden war oder die Emotionen, die sie aufriefen, eben nicht mehr der Realität von Millionären entsprach, die sie inzwischen längst geworden waren.

Die neuen U2

Coldplay wurde schon sehr früh in ihrer Karriere attestiert, dass sie im Grunde das Zeug dazu hätten, die neuen U2 zu werden. Ganz unabhängig davon ob die Band sich das gut geölte Geschäftsmodell der Iren zum Vorbild nahm, um Musik für das große Publikum zu machen, orientierten sich Chris Martin, Guy Berryman, Will Champion und Jonny Buckland eher an A-ha – die sie auch gerne einmal coverten. Mit beiden Bands hat die Musik der Briten vor allem den Hang zur großen Geste gemein, der auf „Viva La Vida“ aus jeder Ritze quillt und selbst so kleine, unschuldige Lieder wie „Starwberry Swing“ mit Süßstoff verklebte.

Von nun an wirkte auch jeder Versuch, sich in der Musikgeschichte zu bedienen, entweder unfreiwillig komisch („42“ erscheint mit seinem Übergang von einem elegischen Popsong zur brüchigen Elektronummer wie ein übermotivierter, farbig geschminkter Bastard von Radioheads „Paranoid Android“) oder wurde gleich zum Fall für den Anwalt (Stichwort: Joe Satriani). Doch „Viva La Vida And Death And All His Friends“, wie das Album mit vollständigem Titel umständlich heißt – und so auch den Anspruch der Band manifestierte, Musik für jedes Gemüt zu machen –, war trotz einiger Geschmacklosigkeiten wenigstens noch keine schlechte Platte.

Ich habe nie verstanden, warum sich Coldplay nicht wesentlich mehr am Karriereweg ihres selbsterklärten Vorbilds R.E.M. orientiert haben. Michael Stipe und Co. hatten es stets verstanden, selbst bei kontroversen Ausflügen in andere Genres ihre Identität zu wahren, in dem sie dabei vorsichtig, geradezu introspektiv vorgingen, sich auf bestimmte Themen konzentrierten und jedem Musiker genügend Raum ließen, eigene Ideen einzubringen. Im Rückblick gesehen vollbrachten sie dies mit einer geradezu beeindruckenden Folgerichtigkeit. Und deshalb gelang wohl auch der würdevolle Ausstieg aus der Musikwelt.

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Was bleibt, wenn Coldplay ihre Karriere beenden?

Man stelle sich nun nur einen Moment vor, dass Coldplay tatsächlich ernst gemacht hätten mit ihrer Ansage, nach dem halbgaren „A Head Full Of Dreams“ aus dem Ring zu steigen. Dann bliebe das scheußliche „Mylo Xyloto“ (inklusive der platten Singles „Princess Of China“, „Every Teardrop Is A Waterfall“!) und die gleichsam intellektuell wie emotional erschütternde Trennungs-Platte „Ghost Stories“ auf ewig bestehen. Hat sich Martin denn allen Ernstes nicht einmal „Blood On The Tracks“ von Dylan oder wenigstens „End Times“ von den Eels angehört, um das „concious uncoupling“ von Hollywood-Actrice Gwyneth Paltrow zu verarbeiten? Möglicherweise war er zu sehr damit beschäftigt, dem Goldkettchenklimpern irgendwelcher Rapper zu lauschen oder in kalifornischen Buchhandlungen nach Esoterikbänden zu stöbern. Inzwischen geht es nur noch um die Suche nach dem richtigen Produzenten, um auch das TikTok-Publikum zu bedienen.

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Wenn Coldplay Liebeslieder schreiben (man kann es ihnen leider nicht verbieten), dann sind diese stets von sich selbst ergriffen. Wenn sie traurige Balladen produzieren (was sie inzwischen viel zu selten tun), dann sind diese in der Regel von ihrer eigenen Traurigkeit geradezu betrunken. Man könnte zynisch behaupten, dass das „Prinzip Coldplay“ längst entschlüsselt wurde und die einstigen Britpopper eben das beste aus ihrer Situation machen, seit sie von aller Welt kopiert werden. Aber das allein erklärt noch nicht, warum diese Band, die immer hoch hinaus wollte, die nicht nur großartige Singles veröffentlichte, sondern auch einen Haufen grandiose B-Sides in der Hinterhand hatte (man höre nur: „Crest Of Waves“, „For You“, „One I Love“, „I Ran Away“, „I Bloom Blaum“, „Help Is Round The Corner“…), plötzlich einfach aufhörte, Musik zu machen.

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Ich muss zugeben, mir geht es inzwischen mit Coldplay so wie mit einem guten Freund aus der Kindheit, den man bei einem Klassentreffen wiedertrifft. Mittlerweile hat er, nach einer langen Leidenszeit als Single, eine Frau kennengelernt, sogar etwas überstürzt Kinder mit ihr gekriegt. Und nun will er partout nicht mehr über all das sprechen, das früher gemeinsam bewegte. Stattdessen erzählt er, dass er seit neustem Slowfood zubereite, jeden Morgen jogge und mit dem Gedanken spiele, einen Straßenköter aus einem rumänischen Zwinger für den Eigenbedarf befreien zu lassen. Und wenn er das erzählt, scheint er von sich selbst ergriffen zu sein. Irgendwie, das verdeutlicht jede seiner trotz allem vorsichtigen Bewegungen, will er unbedingt cool sein. Aber auf eine softe Art, die vorgibt, niemandem weh zu tun.

Man will diesen Typen schütteln und tut es dann nicht, weil doch all die schönen Momente der Vergangenheit zu sehr haften geblieben sind, um sie für einen lausigen, ätzenden Kommentar an einem viel zu langen Abend aufs Spiel zu setzen. Stattdessen wird man seltener anrufen, bald nur noch ein-, zweimal im Jahr. Kein Bruch, weil er eben nicht nötig war. Aber das bittere Flimmern einer enttäuschten Liebe.

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Coldplay haben nach „A Head Full Of Dreams“ dann doch noch eine weiter Platte gemacht, eine tatsächlich irritierend experimentelle, bis auf wenige Ausnahmen komplexe Weltmusikaufnahme. Mit Jazz- und Gospel-Ausflügen. Vielleicht finden sie ja zurück zu ihren musikalischen Wurzeln, konnte man denken und sich auch etwas freuen. Doch nun grüßt Chris Martin mit „Higher Power“ auf TikTok…

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