Neunte Kunst

10 großartige Comics und Graphic Novels für den Sommer + Verlosung

Der Sommer steht vor der Tür. Zur Strandlektüre sollten unbedingt auch ein paar Comics und Graphic Novels gehören. Zum Beispiel: „Gérard“, „Eine Schwester“, „Der Ursprung der Liebe“ und „Lovecraft“.

1. Grmbl: „Gérard – Fünf Jahre am Rockzipfel von Dépardieu“

Gérard Dépardieu ist gewiss kein Leisetreter. Der bullige französische Schauspieler weiß nur zu gut, dass er schon lange ein exzellent zu vermarktender französischer Exportartikel ist. Dabei gehört zum Markenkern selbst das Unkontrollierbare, etwa wenn Dépardieu schambefreit in ein Flugzeug pinkelt. Der 69-Jährige ist eben ein Mann der Superlative, im Guten wie im Schlechten. Doch bisher bekam ihn noch keine Dokumentation und schon gar keine Biographie zu fassen. Das gelingt nun ausgerechnet dem französischen Zeichner Mathieu Sapin, der in Deutschland noch viel zu wenig bekannt ist. Er wurde buchstäblich mehrere Jahre lang zu so etwas wie einem Schatten des cholerischen Gourmets, begleitete ihn auf eine Reise in den Kaukasus (für eine Dokumentation über Alexandre Dumas) und später überall dorthin, wo es sich der Bauchmensch gerade gemütlich machte.

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Was zunächst wie eine nicht enden wollende Demütigung beginnt (Dépardieu nennt Sapin „Tim“, weil er Comiczeichner ist und der Schauspieler eben „Tim und Struppi“ mag), wandelt sich schließlich zu einer fast schon freundschaftlichen Beziehung, die dem oft wie ein Widerling auftretenden Psychotiker die Möglichkeit gibt, sich von seiner auffallend belesenen, gar charmanten Seite zu zeigen. Wenn nicht wieder der nächste Wutanfall lauert. „Gérard“ ist eine urkomische, Weltweisheiten im Seitentakt absondernde Reise mit einem vom Aussterben bedrohten Urviech von einem Künstler.

2. Wechselhafte Wonnen der Pubertät: „Eine Schwester“

Die Graphic Novel eignet sich besonders gut für Coming-Of-Age-Geschichten. In den vergangenen Jahren sind zahlreiche exzellente Comic-Romane dieses Genres erschienen. „Fun Home“ von Alison Bechdel. „Black Hole“ von Charles Burns. Oder „Ein Sommer am See“ von Mariko und Jillian Tamaki. Um nur ein paar preisgekrönte, sehr unterschiedliche Beispiele zu nennen. Bastien Vivès, zuletzt beschäftigt mit der rasanten Abenteuerreihe „Olympia“ und so ziemlich einer der vielfältigsten Comickünstler Frankreichs, fügt dieser Reihe nun ein weiteres Meisterwerk hinzu: „Eine Schwester“.

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Seine mit faszinierend minimalistischem Strich angetriebene Graphic Novel erzählt die Geschichte des verträumten, ziemlich schüchternen 13-jährigen Antoine, der mit seiner Familie die Sommerferien am Meer verbringt. Dort taucht überraschend eine Freundin der Mutter auf und dazu ihre entzückende Tochter Hélène. Hélène ist bereits 16 Jahre alt, ziemlich geheimnisvoll, anscheinend schon sexuell aktiv und trotzdem ziemlich interessiert an dem Jungen. Sie kümmert sich rührend um ihn und seinen Bruder und verführt ihn zu all dem, was in der Pubertät zum Erwachsenwerden dazugehört.

Vivès schildert diese zaghafte Annäherung mit ebenso zaghaften Bildern. Manchmal zeichnet er nicht einmal die Konturen der Gesichter – und doch schildert er mit viel Akribie die schüchternen, die sehnsuchtsgetriebenen Blicke seiner Figuren. Das Knistern zwischen Antoine und Hélène ist förmlich spürbar, bleibt aber von einer eigenartigen Schwermut getränkt.

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Was „Eine Schwester“ von anderen Geschichten ähnlichen Anstrichs und Formats unterscheidet, ist die konkrete Schilderung und Darstellung der sexuellen Energie der beiden Protagonisten, die letztlich eine gewisse Unvermeidbarkeit hat. Dabei spart Vivès auch nicht mit expliziten Bildern, was bei dem Alter seiner beiden Charaktere verwundern mag, aber nur umso heftiger darauf hinweist, dass die (fantasievolle) erotische Selbstfindung Jugendlicher in TV und Film aus Scham und Zensurangst fast völlig ausgespart wird. Nicht zu vergessen: „Eine Schwester“ ist die perfekte Strandlektüre, gleichermaßen ein Genuss für Adoleszente und ewig Junggebliebene. Falls Sie Bastien Vivès verfallen sind: Entdecken Sie unbedingt auch „Der Geschmack von Chlor“.

3. Was auch immer Liebe heißen mag: „Der Ursprung der Liebe“

Die Schwedin Liv Strömquist gestaltete mit „Der Ursprung der Welt“ einen der größten Graphic-Novel-Erfolge der letzten Jahre. Die studierte Politikwissenschaftlerin stellte sich die Frage, warum die Menschheit eine so extreme Hassliebe mit dem weiblichen Geschlechtsorgan verbindet und machte daraus einen klugen, gezeichneten Essay, der wohl vor allem bei jungen Studentinnen offene Türen einriss. Manchenteils nervte der leicht altkluge Tonfall der Zeichnerin, die ihre Storys über den misogynen Augustinus und Dr. Kellogg (der nicht nur die berühmten Cornflakes erfand, sondern auch einen Krieg gegen masturbierende Frauen führte) mit allerlei theoretischem Ballast ausstattete. Aber wer „Der Ursprung der Welt“ las, sparte sich ein ganzes Studium „Gender Studies“.

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Nun also der Nachfolger: „Der Ursprung der Liebe“. Schon der Anfang ist furios: Die Autorin stellt den Leser*innen die garstige Viererbande von TV-Comedians vor, die alle Welt kennt – aber die nichts anderes symbolisieren als geballten Frauenhass. Dabei handelt es sich um Tim Allen aus „Hör mal, wer da hämmert“, Charlie Sheen aus „Two and a Half Men“, Jerry Seinfield aus „Seinfield“ und Ray Romano aus „Alle lieben Raymond“. Allesamt Millionäre in wahren Leben und die Darsteller von Figuren, die von Frauen umgarnt werden und davon eigentlich reichlich genervt sind. Für Strömqist der Beweis, dass die Mehrzahl der modernen Männer keine reifen emotionalen Bindungen eingehen wollen. Was diese von ihren Lieblingen im Fernsehen auch noch als erstrebenswerte Lebenshaltung dargestellt bekommen. Was antwortete noch Prinz Charles, gefragt, ob er in Diana verliebt sei? „Ja…was auch immer Liebe bedeuten mag.“

Auch wenn die intellektuelle Darstellung von feministischer Theorie in diesem Comicband reichlich bemüht daherkommt und immer dann einen etwas zu missionarischen Ton anstimmt, wenn es gerade witzig wird: „Der Ursprung der Liebe“ gestaltet sich als eine scharfsinnige Reise durch das Tal der Beziehungsödnis und zeigt mithilfe von Soziologen wie Ulrich Beck („Liebe ist der Kommunismus im Kapitalismus“) und am Beispiel von Medienpüppchen wie Britney Spears, dass anscheinend etwas mächtig schief läuft zwischen den Geschlechtern. Strömquists These: Männer und Frauen ziehen sich viel zu sehr auf die Klischees zurück, die über sie seit Jahrzehnten existieren und die durch die gewaltige Verbreitung mittels sozialer Medien nur noch mehr Scham und Ängste auslösen. „Missy“-Leser nicken leicht müde, alle anderen dürfen über die Weitläufigkeit der hier ausgebreiteten Gedanken staunen. Kluge Gedanken über die Liebe finden Sie übrigens auch HIER.

4. Kosmischer Schrecken: „Lovecraft“

Erst im vergangenen Jahr erschien noch einmal eine ziemlich notwendige, nun auch endlich kommentierte Ausgabe des Gesamtwerks von H.P. Lovecraft. „Der größte Horrorautor des 20. Jahrhunderts“ (Stephen King, ganz uneitel) hat eigentlich immer noch nicht die Lobby, die er verdient. Dabei dienten seine phantastischen, makaberen Kurzgeschichten, stark inspiriert von Literatur und Literaturtheorie Edgar Allan Poes, als Grundlage für Bücher von Clive Barker, Neil Gaiman und Alan Moore.

Der unheimliche Sog hinter diesen Erzählungen ist natürlich auch Comickünstlern nicht verborgen geblieben. Des niederländische Comic-Zeichner Erik Kriek bebilderte die Horror- und Fantasy-Storys Lovecrafts in „Vom Jenseits und andere Erzählungen“ genauso wie der deutsche Comic-Shootingstar Reinhard Kleist (erschienen 1994, längst vergriffen) in „Lovecraft“. Doch beide dürften dabei vor allem Alberto Breccia im Hinterkopf gehabt haben.

Der uruguayische Comiczeichner wagte sich bereits 1973 an eine subtile wie ergreifend schöne Umsetzung von gleich neun Kurzgeschichten des Gruselmeisters und lässt dabei viel Raum zur Interpretation. Schließlich spielt Lovecraft in seinen Geschichten mit dem Entsetzen, das entsteht, wenn das Unvorstellbare wirklich wird – gerade bei der Schilderung seiner Cthulu-Monster. Breccia arbeitete mit erstaunlich vielen Grauschattierungen, verwendete Fotografien und Graphiken für seine Collagetechnik und verfremdete so bewusst sein Material derart, dass die Bilder den ausführlichen Textabschnitten nicht die Kraft rauben, sich in die Fantasie der Leser zu graben.

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Weniger also eine Graphic-Novel-Adaption als viel mehr eine anspruchsvolle, alle künstlerischen Mittel ausschöpfende Illustration. Der avant-Verlag, der sich der Wiederentdeckung des Werks von Breccia verschrieben hat (erschienen ist 2017 bereits „Eternauta 1969“), hat keine Mühen gescheut, dieses Kunstwerk mit einem hochwertigen Hardcover-Band zurück in die Gegenwart zu holen. Wer noch nie einen Satz Lovecrafts gelesen hat, findet hier auch die geeignete Hinführung.

5. Gabba Gabba Hey: „One, Two, Three, Four, Ramones!“

Mit „One, Two, Three, Four, Ramones!“ zeichnet zum ersten Mal eine Graphic Novel die Legende um die Ramones mit durchaus an typischen Rockstar-Klischees orientierten Bildern nach. Aus der Sicht von Dee Dee Ramone wird das zuweilen verko(r)kste Privatleben der Musiker in einen Schaukasten gestellt. Vor allem erschüttert der biographische Abriss über Douglas Glen Colvins Kindheit, die von häuslicher Gewalt und Alkoholmissbrauch geprägt war. Die rohen, mit Bleistift hinzugefügten Grauschattierungen passen perfekt zum gezeigten Geschehen und musikalischen Duktus der Band, deren Gründungsmitglieder inzwischen alle ihr rasantes Leben mit dem frühen Tod bezahlen mussten.

Auf der folgenden Seite: Comic-Debüt-Sensation „Lichtung“, Neues von Comicstrip-Göre Esther, der Superhelden-Comic des Jahres und unser Gewinnspiel!

Reprodukt
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Liv Strömquist/ Avant Verlag
avant-verlag
Knesebeck
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