Kritik: Rolling Stones in München – Alles schön, nichts tut weh

„The Rolling Stones Sixty“, so lautet das offizielle Motto der aktuellen Stones-Europatournee, aber natürlich war auch in München allen klar, dass es hier eigentlich um etwas ganz anderes geht.

Seit 60 Jahren steht diese Band auf der Bühne. Das ist beeindruckend, es ist einmalig, aber letztlich ist es eben auch nur eine weitere von so vielen Stones-Rekordmarken. In Wahrheit ist das hier also vor allem: die erste Tour ohne Charlie Watts. Den im vergangenen August überraschend verstorbenen Mann, der so viel mehr war als nur „der Schlagzeuger der Rolling Stones“.

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So beginnt das Konzert also mit einer ausführlichen Charlie-Ouvertüre in Form einer Videomontage mit Bildern aus allen Phasen der Karriere und Drum-Backtrack. So wird aus der offensichtlichen Leerstelle kein Elefant im Raum, sondern eine würdevolle Hommage, was im weiteren Verlauf natürlich vor allem Steve Jordan zu verdanken ist. Charlie Watts ist nicht zu ersetzen und niemand weiß das besser als dieser Mann, der den Stones seit Jahrzehnten freundschaftlich verbunden ist und noch zu Lebzeiten von Watts selbst auserkoren wurde. Steve Jordan ist ein Schlagzeuger, der alles spielen kann – an diesem Abend spielt er genau das, was gespielt werden muss.

Überwältigung, wenn die Rolling Stones die Bühne betreten

In München hatte es den ganzen Tag über geregnet, gedonnert und geblitzt, Flüge wurden abgesagt, es war bis zuletzt ein klammes, durchnässtes Bangen und Hoffen. Aber als die Vorband Reef (mit Ron-Wood-Sohn Jesse) die Bühne verlassen hatte, klärte sich der Himmel in den schönsten vorstellbaren Farben auf und das Münchner Olympiastadion bekam genau das Licht, das dem legendären Ort ebenso Rechnung trug wie der Band, die kurz danach die Bühne betrat.

„Ladies and Gentlemen, The Rolling Stones”. Schon diese Ansage ist ja dermaßen aus der Zeit gefallen, aber eben auch: spektakulär. Selbst nach sechzig Jahren ist es immer noch ein mit nichts vergleichbarer Überwältigungsmoment, wenn diese Männer die Bühne betreten. Mick Jagger geht direkt in die Offensive, tänzelt altersverachtend Richtung Steg, Ron Wood verschafft sich einen ersten hektischen Überblick, Keith Richards rückt beseelt grinsend die Telecaster zurecht und schlägt den ersten von so vielen berühmten Akkorden dieses Abends an: „Street Fighting Man“. „What can a poor boy do, except to sing for a Rock’n‘Roll band.“ Die alte Frage, immer wieder.

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Man stellt sie sich natürlich. Einmal mehr ist der Sound nicht ideal in diesem riesigen Kessel, die Tickets waren schon wieder absurd überteuert und natürlich wirkt Keith bisweilen minimal desorientiert. München ist offenbar das 116. Deutschland-Konzert, wie Jagger in charmant holprigem Deutsch nach einem „Servus Minga“ erklärt, und man fragt sich also, warum sie sich das überhaupt noch antun, warum sie immer noch in diesen riesigen Stadien spielen.

Schon wieder ein „letztes Mal“

Seit Jahrzehnten ist es immer „das letzte Mal“, aber nun gehen Mick Jagger und Keith Richards tatsächlich auf die 80 zu, ist „der Neue“ Ronnie Wood auch schon 75 Jahre alt und selbst den treuen Begleitern Darryl Jones, Matt Clifford, Chuck Leavell, Tim Ries und Bernard Fowler sind die Jahre ins Gesicht graviert.

Man merkt es kaum. Wenn Mick Jagger in diesem typischen Jagger-Stechschritt Bühne und Laufsteg abschreitet, tut er das inzwischen eher gehend als rennend, „Rocks Off“ und die höheren Passagen einiger anderer Songs transponiert er, einiges poltert und holpert. All das spielt insofern keine Rolle, weil der tatsächliche Grund, aus dem die Stones sich das alles immer noch antun, in jeder Sekunde dieses denkwürdigen Abends von München offenbar wird: weil sie es lieben, weil es ihr Leben ist, weil sie darin immer noch so unglaublich gut sind.

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Natürlich würde man Songs wie den Gewinner der Publikumsabstimmung „Ruby Tuesday“ oder den Klassiker „Out Of Time“, den sie vor dieser Tour angeblich in den 56 Jahren seiner Existenz noch nie live gespielt hatten, einmal gerne in kleinem Rahmen sehen. Weil die Stones vor allem immer noch diese irrsinnig mitreißende Blues-Pub-Band sind. Aber wo sollen sie bitte schön sonst auftreten als vor den Zigtausenden, die sie ja immer noch Abend für Abend sehen wollen?

Keith Richards von den Rolling Stones auf ihrer „Sixty“-Tour

Bei dem Lockdown-Song „Living In A Ghosttown“ verzichten die Stones auf die Stadion-Arrangements der meisten anderen Songs, sie spielen den ersten neuen Song seit sehr langer Zeit versuppt, aber die Message kommt an: Nicht zuletzt wird an diesem Abend im Publikum die körperlich spürbare Befreiung nach zwei Jahren Pandemie deutlich, endlich wieder ein Konzert sehen zu können. Symbolisiert durch jene junge Sanitäterin und ihren etwas älteren Kollegen, die mit strahlenden Augen glücklich in ihrer Einsatzkleidung tanzend das Bild des Abends liefern – die Stones bewirken hier ganz offensichtlich mehr als alle Balkonklatscher der Welt.

In der Form ihres Lebens

Wir sind jetzt im Herzen der Zunge, und in diesem wird die Band von Song zu Song immer besser. Mit „Miss You“ beginnt der 45-minütige Zieleinlauf. Man hat das alles so oft gesehen, fragt sich zum zigsten Mal, warum die Stones, die doch so einen gewaltigen Katalog haben, letztlich immer wieder auf die größten unter ihren unzähligen Hits setzen. Aber dann spielen sie „Midnight Rambler“, und obwohl man schon vorher weiß, wie der Jam-Part ungefähr ablaufen wird, überwältigen sie einen wieder.

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Diese Band ist seit ungefähr sechs Jahren in der Form ihres Lebens, was unter anderem daran liegt, dass Keith Richards die Sauferei aufgegeben hat und plötzlich nicht mehr ganz so oft sympathisch danebenhaut, was Ausputzer Ronnie Wood ungeahnte Räume eröffnet. Am Ende raubt „Gimme Shelter“ einem natürlich wieder den Atem, erzeugt immer noch kein Gitarrist der Welt mit nur einem einzigen Anschlag so viel Wirkung wie Keith bei „Jumping Jack Flash“, findet man plötzlich selbst „Start Me Up“ wieder grandios, „Sympathy For The Devil“ mitreißend intensiv und den obligatorischen Abschluss mit „Satisfaction“ einzigartig.

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„I can’t even feel the pain no more“ hatte Mick Jagger zu Beginn des Konzerts in einer etwas verstolperten Version von „Rocks Off“ gesungen. Vermutlich liegt in diesen Worten die eigentliche Antwort auf die Frage nach dem Warum: Im Münchner Olympiastadion haben die Rolling Stones dem Tod weitere zwei Stunden abgetrotzt. Alles war schön, nichts tat weh. Es war mal wieder das letzte Mal. So wie jeden Abend. Seit 60 Jahren.

Dave Hogan Dave J Hogan/Getty Images
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