Nick Cave zum 60. Geburtstag: Die Kunst des Dämmers

Es gibt keine Schuld, aber es gibt eine Buße: In seinen Songs beschwört Nick Cave die Intensität des Lebens am Abgrund. Notizen zu einem romantischen Existenzialisten

Einmal sagte Nick Cave in einem Interview unvermittelt, er würde jetzt nicht gern aufstehen und zur Toi­lette gehen müssen, um sich Heroin in die Venen zu spritzen. Die Toiletten seien oft dreckig. Und die Sache sei auch etwas peinlich. Aber andererseits denke er, dass all das Rauschgift seines Lebens noch immer in seinem Körper und er deshalb so viril sei. Er sei gut konserviert. Er spüre noch immer den Glimmer des Rausches.

Nick Cave war vielleicht 50 Jahre alt, als er das sagte. Er sagte nicht: Ich habe das getan, und ich bereue es. Es war falsch. Ich war jung, und ich konnte mit dem Erfolg nicht umgehen. Tourneen sind anstrengend. Es gab diese Erwartungen. Macht es nicht!

Überleben als Kunst

Nick Cave war damals seit 20 Jahren ein arrivierter Künstler. Er hatte Platten aufgenommen, Romane und Drehbücher und Filmmusik geschrieben, er hatte ein Seminar über Songlyrik geleitet und in Filmen gespielt. Er hätte einer der Musiker werden können, an die sich Männer erinnern, wenn sie bei viel Alkohol sentimental werden und an die Musik ihre Jugend denken: The Beasts Of Bourbon, The Seeds, ­Crime & The City Solution, Louis Tillett, Neil Finn, The Apartments. Waren alle toll. Aber nur einer kam durch. ­Cave hat aus dem Bekenntnis, aus der Qual und dem Überdruss, aus der Liebe und der Literatur, er hat aus dem Überleben an sich eine Kunst gemacht.

Es gibt keine Reue bei Nick ­Cave, denn es gibt keine Sünde. Seine Texte sind voll religiöser Bilder, Symbole und Chiffren, aber alle handeln von der Abwesenheit Gottes. Niemand außerhalb einer Kirche und des Gospels ruft so oft Gott an, und niemand ist sich der Vergeblichkeit so sicher. Caves Glaubensbekenntnis ist: „I don’t believe in an interventionist god.“ Aber Gott soll ihm die Frau lassen, die an diesen Gott glaubt. Sie soll in seine Arme kommen.

Nick Cave 1980

Er ist einfach ein grimmiger Typ. Leon­ard Cohen und Johnny Cash waren Schwarzvögel, aber sie waren Spaßvögel im Vergleich zu ­Cave.

Er lacht nicht. Vielleicht geht er zum Lachen in den Keller. Aber vielleicht hält er sowieso alles für einen kosmischen Witz. Je gruseliger seine Lieder sind, desto aberwitziger sind sie. „Murder Ballads“ aus dem Jahr 1996 ist möglicherweise seine brutalste Platte – aber die Moritat „O’Malley’s Bar“ steigert sich zu einem Gemetzel des Grotesken, das an Komik nicht zu überbieten ist. „Dig!!! Lazarus Dig!!!“ von 2008: eine wüste Litanei, Art brut. Der Tumult. Nick ­Cave hat die Hoffnung ersetzt durch seine flammenden Lieder und Schriften, die Resignation als Dichtung. Es ist eine einnehmende Angelegenheit. Wenn er im Flugzeug ein paar Sentenzen auf Kotztüten krakelt, ist er so begeistert davon, dass es als Faksimile in einem Buch erscheinen muss. Der Rockmusiker-Dokumentation mit Konzertausschnitten, alten Videos, Backstageszenen und Interviews mit Wegbegleitern und Plattenfirmenfuzzis setzt er die Dichter-Dokumentation entgegen, die unbedingt aussieht wie ein Film von Wim Wenders oder Jim Jarmusch. Wenn sie nicht sogar ein Film von Wim Wenders oder Jim Jarmusch ist.

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Cave ist, wie vor ihm Dylan und Cohen und Cash und Joni Mitchell, etwas sehr Seltenes gelungen: Er hat sich verändert. Niemand erfindet sich je neu. Aber der bekenntnishafte Künstler hat immer etwas zu erzählen, denn es geht ja immer irgendwie um ihn, und er denkt immer irgendwas. Er hat nicht nur etwas zu erzählen – er drückt sich aus. Er singt, weil er ein Lied hat. Mit Frank Sinatra sagt er: Was immer dich durch die Nacht bringt. Wobei die Nacht niemals endet. Und deshalb muss man sehr weit gehen.

„Aber er lebt nicht“

Im Dokumentarfilm „One ­More Time With Feeling“ umkreist ­Cave den Tod seines Sohnes Arthur, der im Jahr 2015 im LSD-Rausch von einer Klippe stürzte. Er war 15 ­Jahre alt. Cave sitzt vor einem ­Fenster in ­seinem Haus in Brighton. „Ich ­würde es gern auf eine Grußkarten­plattitüde reduzieren – wie ‚Er lebt in meinem Herzen‘. Die Leute sagen es mir immerzu: ‚Er lebt in deinem Herzen.‘ Ja. Er ist in meinem Herzen. Aber er lebt nicht.“

Seine Frau, Susie, ist mit ihm in der Wohnung, sie war Schauspielerin, jetzt entwirft sie Kleider, sie muss sich beschäftigen. In „The Sorrowful Wife“ heißt es: „And the birds send a terrible shiver/ Through me and my sorrowful wife/ Who is shifting the furniture around.“ Das Lied ist auf der Platte „No More Shall We Part“ von 2001. Jetzt sagt Cave: „Sie weiß, dass ich es nicht mag, wenn sie Möbel umstellt. Deshalb macht sie es, wenn ich nicht da bin.“ Sein Lieblingsfoto von ihnen zeigt sie frontal in die Kamera blickend, nebeneinander sitzend. Es hängt in einem Zimmer mit einem großen Tisch. „Mir gefällt es, weil wir uns nicht berühren, weil jeder für sich ist.“

Es ist ein Klischee, dass so ein Haus ein Totenhaus sei oder ein Museum. Nick Cave und seine Frau haben es schon eingerichtet wie das Thomas-Mann-Haus, das Thomas-Bernhard-Haus. Man sieht eine Kindermalerei von Arthur Cave, sie ist wie jede Kindermalerei. Aber Arthur lebt nicht mehr, er ist nicht älter geworden als ein Kind. Ein Lied Arthurs ist zu hören, das so klingt, wie der Vater als Kind geklungen haben könnte, zum Klavierspiel gesungen, zugleich jung und uralt: „Ich muss durch das Wasser zu dir gehen.“ Nick Cave sagt: „Es gibt keine Imagination um das Trauma. Es ist einfach das Trauma.“ Alle Songs, die er jetzt schreiben könnte, hat er schon geschrieben, alle Töne gespielt. Der Blick in den Spiegel, in hartem Schwarz-Weiß: „Die Ringe unter den Augen waren im letzten Jahr noch nicht da.“

Man hat Nick Cave die Pose vorgeworfen, die feierliche Attitüde. Er war der Berserker, dann war er der Dichter. Brasilien 1989 war die Zäsur, die Platte „The Good Son“ brachte den Crooner hervor. Vom Sturm und Drang sprang Cave in die Romantik. Aber er traute sich selbst nicht. Mit „Henry’s Dream“ und „Let Love In“ kamen noch einmal das Rumpeln und die Rabulistik. „I Had A Dream, Joe.“ „Jack The Ripper.“ „Red Right Hand.“ „Bro­ther, My Cup Is Empty.“ Es war noch einmal das B-Movie, der Bluesmann, der trunkene Krakeeler.
Vom Camp befreite ihn 1995 Kylie Minogue. Sie wollte seriös werden, er populär. Sie ist die Wasserleiche, die er in „Where The Wild Roses Grow“ besingt. Die Tote singt auch selbst. Sie hätten „Locomotion“ singen sollen oder „I Should Be So Lucky“, aber die theatralische Nummer wurde ein Hit.

„Murder Ballads“ ist wie Grimms Märchen: eine Anthologie des wohligen Grauens, geronnen zu Literatur. Die Bad Seeds inszenieren diese Stücke mit dem Ernst, der Wucht und Majestät, die ­Caves grelle Trivialgeschichten gar nicht haben: „All things move toward an end/ On that you can be sure.“ Es ist eine glänzende Theatermusik. Die Bad Seeds führen die Schauergeschichten als Geisterbahnhorror auf, und Cave singt sie so. Das Heulen und die Gespensterchöre, das Tosen, der falsche Regen, die Sirenen, der Mordsgroove und die billigen Effekte: American Gothic.

Als alter Mann ein Klassiker

Mit „The Boatman’s Call“ wurde Nick Cave 1997 zum autobiografischen Songschreiber. Er war 40 Jahre alt. Er war jetzt der romantischste Sänger der Welt, ein Minnesänger. Nur dass die Minne immer schon vorbei ist. Cave erinnert sich an die Zitronenbäume, an die Kirche in Brompton, an das Mädchen aus dem Westen, an die schwarzen Haare, die dunklen Augenhöfe und die grünen Augen. Die Lieder hätten nicht dadurch beglaubigt werden müssen, dass PJ Harvey und ­Tori Amos genannt wurden, von denen sie handeln.

Nick Cave ist ein eklektischer Künstler, der den Eklektizismus zu einem Original gemacht hat. Er hat rechtzeitig gemerkt, dass er als wilder Mann gut kam, als er jung war, dass er aber noch besser als mittelalter Mann sein würde, und ein Klassiker als alter Mann, denn Dämmerung war bei ihm ja schon immer. Wie alle Songschreiber der zweiten Generation hatte er eine exquisite Plattensammlung und nahm sich daraus einerseits alles Große, ­Gute, Wahre und Schöne, andererseits das Obskure und Halbüberraschende. Auf dem Album „Kicking Against The Pricks“ (1986) sind „I’m Gonna Kill That Woman“ von John Lee Hooker, Jimmy Webbs „By The ­Time I Get To Phoenix“, Lou Reeds „All Tomorrow’s Parties“, Roy Orbisons „Running Scared“ und Alex Harveys „Hammer Song“. Am besten ist aber „Something’s Gotten Hold Of My Heart“, berühmt in der Fassung von Gene Pitney, das zu den Liedern gehört, die auch in einer schepperigen Karaokeversion berückend sind. Caves Interpretation, schmalzig, melodramatisch und mit Mick Harvey und Barry Adamson im Chor, ist vollkommen übertrieben, outriert, aus vollem Herzen – also perfekt. ­Caves manierierte Fassung von „In The Ghetto“ ist reinster Comic: Als Skeptiker und Schwarzseher glaubt er das schmierige Sentiment keine Sekunde – anders als Elvis Presley, dessen Kunst es war, dass er in jeder Sekunde alles glaubte.

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Caves liebster Trick ist es, den Kitsch nicht als Kitsch erscheinen zu lassen, indem er drei Tonnen Groll, Geröll und Trauer darüberkippt. Sein Pathos erlaubt keine Ironie. Wenn es bizarr wird wie in „Higgs Boson Blues“ auf „Push The Sky Away“, dann verweist Cave auf den absurden Charakter des Erzählten: Miley Cyrus muss natürlich als „Mylie Cyrus“ falsch geschrieben sein.

Es gibt Buße

Das Leben ist ernst, und ernst ist die Kunst. Den Künstlerkult treibt Cave über die Popmusik hinaus: Der Dokumentarfilm „20.000 Days On Earth“ ist eine absichtlich bedeutungsschwangere, zum Lachen wichtigheimerische Nabelschau, in der Cave als Lord fucking Byron oder William Butler Yeats auftritt, wie Morrissey es gern tun würde. Jemand will einen Film über mich drehen? Gut, aber all die Fotos von alten Meistern und Geistesgrößen müssen an der Wand hängen, und ich muss immer pittoresk im Bild sein.

In „One More Time With Feeling“ ist das Schwarz-Weiß ein „Himmel über Berlin“-Schwarz-Weiß, und die Auskünfte sind beinahe so gesucht und erlesen wie bei Peter Handke. ­Cave dominiert das Studio, er gibt sich den Anschein von Beiläufigkeit, er geht mit einem Pappbecher herum. Er singt „Girl In Amber“ und „Skeleton Tree“, die Songs sind fertig, sie sind gelungen.

„One More Time With Feeling“ ist ein Film über die Ratlosigkeit. Nick Cave hat die Tragik besungen, er hat die Tragik bekommen. Es gibt vielleicht keine Schuld, aber es gibt ­eine Buße.

Und Nick Cave bezahlt.

Die große Nick-Cave-Titelgeschichte – im aktuellen ROLLING STONE:

David Corio Getty Images
Virginia Turbett Redferns
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