Neunte Kunst - exklusiver Einblick

„Von Mäusen und Menschen“ als Comic: Amerikanischer (Alb-)Traum

Die französische Zeichnerin Rébecca Dautremer hat John Steinbecks berühmte Kurzerzählung über die Zeit der Großen Depression mit Bildern neu belebt. Keine Illustration, sondern eine Reinszenierung auf 420 Blättern.

Keine Angst vor den großen Wälzern: Weltliteratur ist ja oft auch ein Kampf mit den vielen Seiten. Wer die Klassiker von Joyce, Proust, Dickens, Flaubert, Dostojewskij, Musil, Cervantes und so vielen mehr liest, der braucht etwas Zeit und natürlich Muße. Doch jeder, der mehr als einen Roman in seinem Leben gelesen hat, der nicht für Monate auf irgendeiner Bestsellerliste steht (sprich: Bücher, die schon älter sind und mehrere Generationen Leserinnen und Leser angezogen haben), der weiß auch, dass es große Literatur auch im kleinen Format gibt. Der ganze Kosmos des menschlichen Lebens auf wenig Papier.

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„Von Mäusen und Menschen“ von Literaturnobelpreisträger John Steinbeck ist so ein Fall. Es handelt vom aufrichtigen George Milton und Lennie Small, zwei Wanderarbeitern, die sich während der Großen Depression in Kalifornien durchschlagen, von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle weiter ziehen. Ihre Beziehung ist stark geprägt von Lennies geistiger Behinderung und Georges fürsorglicher, aber zugleich auch gerissenen Art, sich um seinen großen, starken Gefährten zu kümmern, der bald nicht nur Mäuse auf dem Gewissen hat. Die Arbeit auf einer Farm steht im Mittelpunkt der schmalen Erzählung, die mit symbolischer, dramatischer Verdichtung zuspitzt, warum beide von Anfang an eigentlich keine Chance für einen Anschluss hatten. Es ist die mit kargen sprachlichen Mitteln und radikalem realistischen Blick für soziale Strukturen erzählte Geschichte des (für viele) im Grunde zum Scheitern verurteilten Amerikanischen Traums.

Vitalisierung des Textes

Natürlich ist „Von Mäusen und Menschen“ schon lange Schullektüre, es wird seit vielen Jahrzehnten auf Theaterbühnen inszeniert und in Hörspielen verarbeitet. Es gibt zwei exzellente Verfilmungen (1939 von Lewis Milestone, vierfach nominiert für den Oscar; 1992 gefilmt von und mit Gary Sinise, mit einem tumben Lennie gespielt von John Malkovich). Und dennoch bleibt die Leseerfahrung auch heute noch erschütternd und interpretationsoffen. Wie nun die französische Illustratorin Rébecca Dautremer in ihrer Fassung des Buchs zeigt. Dautremer hat keine Graphic Novel aus dem Stoff gemacht, sie hat auch nicht nur einige Bilder zu der Handlung illustrativ beigetragen. Stattdessen hat sie sorgfältig fast Absatz für Absatz den kompletten Text mit Bildern (in Gouache und Bleistift) synchronisiert. Das bedeutet: 420 Blätter mit sehr dynamischen, sich vom Stil oft stark voneinander unterscheidenden Szenarien, die den Worten nicht nur mehr Kraft verleihen, sondern zugleich auch als Interpretation und Vitalisierung des Textes verstanden werden können. Mal handelt es sich dabei um Sequenzen, mal um großformatige Einzelbilder.


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Es ist durchaus einschüchternd, sich dieser außergewöhnlichen Visualisierung von „Von Mäusen und Menschen“ zu nähern. Nicht immer treffen die Bilder den richtigen Ton, oft genug reizen sie aber zum Widerspruch oder zur vertieften Sicht auf ein Werk, das mit großer Sorgfalt entstanden ist und eine geradezu biblische Wucht hat. Freilich ohne dafür Himmel und Hölle in Bewegung setzen zu müssen. Dautremer ist mit ihrer Herkulesaufgabe gelungen, einen Klassiker der Literatur in die Welt der Comics zu bewegen, ohne dass er dabei je an intellektuellem Gewicht verloren hätte.

ROLLING STONE gibt einen exklusiven Einblick in „Von Mäusen und Menschen“

Alle Bilder: Splitter Verlag

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